Ludwig Greven - 28. November 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Das Ende des gesellschaftlichen Diskurses


Die Verständigung in der Gesellschaft klappt immer weniger

Ohne Kommunikation, ohne gemeinsame Sprache geht es nicht. Beim Turmbau zu Babel redeten sie in tausend Zungen, heißt es in der Bibel. Aber sie verstanden sich nicht. So viel Rede- und Gedankenvielfalt wie in unserem geeint-zerstrittenen Land war nie. Jeder kann sagen, was, wie und wo er oder sie will. Er kann heute das eine behaupten und morgen das Gegenteil. Die einen verteufeln und andere lobpreisen, oder umgekehrt. Das laute Geschnatter von der angeblichen Beschneidung der Meinungsfreiheit in TV-Talkshows, Zeitungen und im Netz bestätigt das nur. Wenn die freie Aussprache tatsächlich unterdrückt würde wie in Diktaturen und autokratischen Regimen, wäre davon keine Rede. Allenfalls hinter vorgehaltener Hand. Wie in Deutschland mehrfach gehabt.

 

Und doch hat sich etwas verändert, was manche empört und andere wie mich erschreckt. Es ist das wirkliche, gefährliche Problem: die Sprachlosigkeit, das gegenseitige Unverständnis einer offenen, vielfarbigen Gesellschaft, das sie entlang verschiedener Bruchlinien zerteilt: Ost/West, Stadt/Land, alt/jung, arm/reich, rechts/links. Trotz unaufhörlichen Geplappers auf allen Kanälen gelingt das Gespräch zwischen den unterschiedlichen Gruppen, der Diskurs, nur noch selten. Selbst die Verständigung darüber, was der Fall ist, wie es der Philosoph Ludwig Wittgenstein nannte. Weil alle auf ihrer Sicht beharren. Das neue Babylon: Leben wir in der besten aller Welten oder kurz vor der Apokalypse? Ist alles schwarz-weiß oder bunt? Ist Blau das neue Braun oder alles linksgrün versifft? Ist Blau überhaupt noch Blau, Grün Grün? Wer will das noch mit Bestimmtheit sagen?

 

Ein Grafiker einer Zeitung, für die ich mal gearbeitet habe, sagte mir zu meiner Überraschung, er sei wie viele seiner Kollegen farbenblind. Aber er habe gelernt, welcher Grauwert, den seine Augen wahrnähmen, nach allgemeinem Verständnis für welche Farbe stehe. Wobei ohnehin jeder Farben anders wahrnimmt. Ich z. B. habe eine leichte Rot-Grün-Schwäche. Behindert mich das? Allenfalls bei der Kleidungszusammenstellung. Und das auch nur in den Augen der Betrachter. Denn ich weiß ja nicht, kann es gar nicht wissen, was andere sehen und wie sie es definieren. Ich habe lediglich gelernt, die Lichtbrechungen mit bestimmten Farbbegriffen zu belegen, die meine Eltern und Lehrer mir vorgaben.

 

Die Welt zu begreifen heißt, sie unterschiedlich zu sehen. Als Kinder spielten wir unbefangen „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ und nannten Menschen mit dunkler Hautfarbe, denen wir so gut wie nie begegneten, beim N-Wort. Heute ist das N-Wort zum Glück tabu, ebenso für viele das S-Wort. Und wie ich als Heranwachsender haben die Allermeisten wohl längst verstanden, dass es zwischen Menschen verschiedener Hautfarben, Herkunft, Prägung, Kultur, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung und daraus folgenden Weltanschauungen zwar Unterschiede gibt – sonst wäre das Leben ja auch langweilig. Aber keine des Menschseins.

 

Eine gesellschaftliche Verständigung gelingt nur, wenn ich den anderen, auch den Fremden, erst einmal respektiere, also wahr- und ernst nehme – auch seine Sicht auf die Welt und das Leben. Ich muss sie ja nicht teilen, nicht einmal akzeptieren. Aber was gibt mir das Recht, mit Absolutheit zu sagen, dass er oder sie falschliegt und ich richtig? Haben sich die Ansichten darüber nicht über die Jahrhunderte und Jahrtausende beständig gewandelt?

 

Vor einiger Zeit sah ich zufällig auf YouTube ein Video, in dem ein Mann in einem nachgemachten TV-Studio ganz ernsthaft erklärte, dass die Erde eine Scheibe sei – mit modernsten Grafiken und Computer-Animation. Tausende hatten es sich angesehen und „geliked“. Man kann darüber lachen oder ins Grübeln kommen. Ist der Fortschritt wirklich unaufhaltsam? Und sei es der Fortschritt des Denkens, der Imagination? Ich bin mir da nicht mehr so sicher.

 

Ein Fortschritt wäre es schon zu beherzigen, was Paartherapeuten lehren. Dass nämlich in einer Beziehung, ebenso in einer Gemeinschaft, jeder recht haben kann – aus seiner Sicht. Es gibt in Wahrheit keine Bipolarität wie in der Welt des Digitalen: Strom an, Strom aus. Es existieren immer verschiedene „Wahrheiten“, selbst in der Wissenschaft und im Glauben. Jeder hat seine eigene, geformt durch Erziehung, Lebensumstände, Lebenserfahrungen. Niemand kann beanspruchen, dass seine die allein seligmachende ist. Wenn viele das ertrügen, wäre viel gewonnen. Eine diverse Gesellschaft lebt nicht von Uniformität. Im Gegenteil. Die, die früher inkonform gewesen wären, möchten aber heute vielfach bestimmen, was zu sein hat. Diejenigen, die früher das Sagen gehabt hätten, spielen sich jetzt als die Nicht-Konformen auf. Beide Seiten behaupten, nicht nur für die Mehrheit zu sprechen, sondern die Mehrheit zu sein.

 

Doch erst einmal spricht jeder nur für sich. Schwarz ist manchmal Weiß. Und Weiß manchmal Schwarz. Es kommt immer auf den Standpunkt und die Sichtweise an.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.


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