Gerhard Köhler - 28. August 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Blühende Kulturlandschaften


Starthilfe für die Kultur nach dem Mauerfall

Das Vorgehen zur Wiedererlangung der Deutschen Einheit war von Beifall, aber auch von Kritik begleitet. Auch heute noch gehen in der geschichtlichen Deutung und Bewertung wie in der Beurteilung des in 30 Jahren Erreichten die Meinungen stark auseinander. Verglichen mit der Situation von Kunst und Kultur in der untergehenden DDR kann deren Zustand in den 30 Jahren nach der Wiedervereinigung nur als Glücksfall bezeichnet werden. Der Bund und die alten Bundesländer haben seinerzeit in gesamtstaatlicher Verantwortung den neuen Bundesländern mit immensen Haushaltsmitteln und hilfreicher Beratung zur Seite gestanden.

 

Das SED-Regime hatte Kunst und Kultur der Ideologie und dem Staatszweck der DDR untergeordnet. In Artikel 18 Absatz 1 und 2 der DDR-Verfassung im Wortlaut von 1974 – fast wortgleich mit der Verfassung von 1968 – heißt es dazu:

 

„(1) Die sozialistische Nationalkultur gehört zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft. Die Deutsche Demokratische Republik fördert und schützt die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft dient. Sie bekämpft die imperialistische Unkultur, die der psychologischen Kriegführung und der Herabwürdigung des Menschen dient. Die sozialistische Gesellschaft fördert das kulturvolle Leben der Werktätigen, pflegt alle humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur und entwickelt die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes.

 

(2) Die Förderung der Künste, der künstlerischen Interessen und Fähigkeiten aller Werktätigen und die Verbreitung künstlerischer Werke und Leistungen sind Obliegenheiten des Staates und aller gesellschaftlichen Kräfte. Das künstlerische Schaffen beruht auf einer engen Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes.“

 

Demzufolge stand das kulturelle Leben in der DDR unter intensiver staatlicher Kontrolle und Beeinflussung – auch übrigens die innerdeutschen Kulturbeziehungen. Nicht linientreue Kunstschaffende mussten mit einschneidenden Maßnahmen der Staatssicherheit rechnen. Abgesehen von einigen Prestigeobjekten geriet die kulturelle Infrastruktur zunehmend in Schwierigkeiten. Insbesondere die Bausubstanz kultureller Einrichtungen wurde vernachlässigt und nahm Schaden. Gleichwohl gab es trotz dieser schwierigen Bedingungen immer noch ein erstaunlich lebhaftes künstlerisch-kreatives Schaffen in den verschiedenen Kunstsparten.

 

Nach der Wende war eine Abkehr vom DDR-Zentralismus zwingend. Ein föderatives System musste neu aufgebaut werden. Vor allem ging es um die Überführung der Kultureinrichtungen und der Förderung der kulturellen Aktivitäten in die Verantwortung der neuen Bundesländer und der Kommunen.

 

Die neuen Länder wie auch die Städte und Gemeinden standen nach dem Verfall des SED-Regimes vor der hoch komplizierten, schwierigen Aufgabe, die kulturelle Substanz zu erhalten und zugleich zukunftsweisende Strukturveränderungen nach den Prinzipien einer freiheitlichen Bürgergesellschaft und eines demokratischen Rechtsstaates durchzuführen. Vor allem entstand ein enormer Finanzbedarf für die dringend erforderlichen Investitionen in der so reichhaltigen, aber sehr vernachlässigten Kulturlandschaft Mittel- und Ostdeutschlands. Der Bund und die alten Bundesländer haben ihre Gesamtverantwortung für alle staatlichen Aufgabenbereiche, einschließlich Kunst und Kultur anerkannt und wahrgenommen.

 

Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990, in Kraft seit dem 29. September 1990, bot dafür die Handlungsgrundlage. Für den Bereich Kunst und Kultur bestimmt Artikel 35 Einigungsvertrag unter anderem, dass die kulturelle Substanz in den neuen Bundesländern keinen Schaden nehmen darf (Absatz 2) und weiter, dass die Finanzierung gesichert werden muss, und zwar durch die neuen Länder und Kommunen (Absatz 3). Der Bund kann jedoch, so heißt es zudem, einzelne kulturelle Maßnahmen und Einrichtungen zum Ausgleich der Auswirkungen der Teilung Deutschlands übergangsweise oder auch – bei den ehemals zentral geführten Einrichtungen – auf Dauer mitfinanzieren (Absätze 4 und 7). Die zur Mitfinanzierung durch den Bund vorsichtig-zurückhaltenden Formulierungen des Artikels 35 stehen im Gegensatz zur tatsächlichen Förderpraxis. Der Bund hat sofort nach der Wiedererlangung der Einheit mit intensiven Fördermaßnahmen zur Übergangsfinanzierung geholfen. Zuständig innerhalb der Bundesregierung unter Helmut Kohl war seinerzeit bis 1998 das Bundesministerium des Innern mit seiner Kulturabteilung. Es hat zur Übergangsfinanzierung verschiedene Programme entwickelt. Der Deutsche Bundestag hat dafür dankenswerterweise die erforderlichen Haushaltsmittel bewilligt.

 

Mit dem „Substanzerhaltungsprogramm“ wurden in den Jahren 1991 bis 1993 mit Bundesmitteln in Höhe von rund 1,5 Milliarden D-Mark kulturelle Einrichtungen und Veranstaltungen von vorwiegend überregionaler Bedeutung gefördert. Sie wurden durch ein von der Bundesregierung berufenes Expertengremium ausgewählt. Zuwendungen erhielten Theater, Museen, Orchester, Bibliotheken und Gedenkstätten, die vormals unter dem SED-Regime zentral geführt wurden. Vorrangig mussten die laufenden Haushalte der personal- und kostenintensiven Theater, Orchester und Museen finanziert werden. Geholfen wurde den großen, bedeutsamen Einrichtungen wie den Luther-Gedenkstätten in Eisleben und Wittenberg, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, den Preußischen Schlössern und Gärten in Berlin und Potsdam, dem Schloss und Gartenreich Dessau-Wörlitz, den Stätten und Einrichtungen der Deutschen Klassik in Weimar und vielen anderen.

 

Zu den Bundesmitteln für das „Substanzerhaltungsprogramm“ hat das jeweilige Bundesland in jedem Fall mindestens die Hälfte der Kosten beigesteuert.

 

Zur Sanierung der kulturellen Infrastruktur in der Region außerhalb der kulturellen Schwerpunktbereiche der DDR beteiligte sich der Bund mit rund 720 Millionen D-Mark in den Jahren 1991 bis 1993 an der Finanzierung des „Infrastrukturprogramms Kultur“. Um die finanzielle Beteiligung der Kommunen zu sichern, begrenzte der Bund seine Zuwendungen auf maximal 49 Prozent der jeweiligen Kosten. Nach einem einvernehmlich mit den neuen Ländern vereinbarten Verteilungsschlüssel für den Anteil des jeweiligen Landes an dem jährlich im Bundeshaushalt bewilligten Gesamtansatz für das Programm kamen die Gelder Einrichtungen und Vorhaben der verschiedenen Kunstsparten sowie Bibliotheken, Museen, Archiven, Sammlungen und der Denkmalpflege zugute, aber auch der Jugend- und Erwachsenenbildung, der Soziokultur, der Heimatpflege und der Volkskunst.

 

Zur Übergangsfinanzierung gehörte als dritte Säule auch noch das „Denkmalschutzsonderprogramm“ mit rund 190 Millionen D-Mark aus dem Bundeshaushalt für die Jahre 1991 bis 1993. Mit einer 49-Prozent-Beteiligung des Bundes wurden rund 1.500 Maßnahmen gefördert. Sie betrafen zumeist die Sanierung wertvoller historischer Bauten, aber auch Maßnahmen zur Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Denkmalpflege und Restaurierung. Für die Belange des Denkmalschutzes hat sich auch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz unter Einsatz hoher Spendenmittel vorbildlich eingesetzt. Der Bund förderte dieses Engagement der Stiftung mit einer Anschubfinanzierung von 40 Millionen D-Mark.

 

Später, ab 1996, finanzierte das Bundesinnenministerium durch seine Kulturabteilung das „Sonderprogramm Dach und Fach“ mit jährlich sechs Millionen D-Mark – später Euro. Damit konnten kleinere Baudenkmäler im ländlichen Raum der neuen Bundes-länder wie auch im Ostteil Berlins durch eine Anteilsfinanzierung von einem Drittel erhalten werden. Ein sinnvoller Multiplikationseffekt wurde dadurch erreicht, dass das jeweilige Bundesland und die Kommune sich auch mit jeweils einem Drittel beteiligten. So konnten weit über 1.000 Baudenkmäler in den neuen Bundesländern, darunter viele für das Heimatbewusstsein bedeutsame Dorfkirchen, vor dem Verfall infolge jahrzehntelanger Vernachlässigung durch das SED-Regime bewahrt werden.

 

 

Auch trug das damalige Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung seit 1990 mit dem „Städtebauförderprogramm“ in hervorragender Weise zum städtebaulichen Denkmalschutz und zur Städtebauförderung in den neuen Ländern bei. In einer beeindruckenden Gemeinschaftsleistung von Bund, Ländern und Gemeinden, deren Ergebnisse für jedermann sichtbar sind, gelang es, den baulichen Verfall in den Altstädten, historischen Stadtkernen und Zentren von rund 160 Städten und Gemeinden in den neuen Ländern zu stoppen und einen umfangreichen Sanierungsprozess einzuleiten. Ganze Ensembles geschichtlich und künstlerisch herausragender Bauten, Straßen und Plätze konnten erhalten werden, förderlich für das Heimatgefühl der Ortsansässigen. Die gelungenen Sanierungsmaßnahmen ziehen zudem Touristen an und sind dadurch auch ein willkommener Wirtschaftsfaktor. Der Bund beteiligte sich ebenso wie das jeweilige Land mit 40 Prozent an den Kosten. Der kommunale Eigenanteil ging nicht über 20 Prozent hinaus. Im Zeitraum von 1990 bis 2006 sind aus dem Etat dieses Bundesministeriums insgesamt ca. 1,5 Milliarden Euro für den städtebaulichen Denkmalschutz in den neuen Bundesländern zur Verfügung gestellt worden.

 

Die Maßnahmen der zeitlich auf die Jahre 1991 bis 1993 begrenzten „Übergangsfinanzierung“ wurden 1994 durch überbrückende Zahlungen von 250 Millionen D-Mark aus dem Vermögen der ehemaligen Parteien und Massenorganisationen der DDR prolongiert. Ab 1995 waren durch den neuen Bund-Länder-Finanzausgleich die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die neuen Bundesländer und ihre Kommunen ihre kulturellen Aufgaben grundsätzlich eigenständig erfüllen konnten. Die kulturelle Mitverantwortung des Bundes konzentrierte sich in den neuen Ländern jetzt – wie auch in den alten Ländern – auf die Förderung national bedeutsamer Kultureinrichtungen und -veranstaltungen.

 

Der noch anhaltende Nachholbedarf an Baumaßnahmen und Beschaffungen im Aufgabenbereich Kultur in den neuen Bundesländern erforderte indessen zusätzliche Fördermaßnahmen neben der schon eingespielten Förderung der herausragenden Kultureinrichtungen mit leuchtturmartiger Ausstrahlung im sogenannten „Leuchtturm-Programm“. Bereits 1991 nahm die Bundesregierung einige besonders bedeutsame Kultureinrichtungen der neuen Bundesländer in die Dauerförderung auf. Da diese Kultureinrichtungen eine gleichsam leuchtturmartige Ausstrahlung national und international hatten und haben, setzte sich für ihre Förderung die Bezeichnung „Leuchtturm-Programm“ durch. Dazu gehörten von Anbeginn an die Preußischen Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, das Bauhaus in Dessau, das Gartenreich Dessau Wörlitz – heute Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, das Bach-Archiv in Leipzig, die Kultureinrichtungen in Weimar – jetzt Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen – und die KZ-Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau Dora. Auf Bitte der neuen Länder kamen bald weitere hinzu: Franckesche Stiftungen in Halle (Saale), Fürst Pückler Park in Bad Muskau, Deutsches Museum für Meereskunde und Fischerei in Stralsund, Ständiges Büro Mitteldeutsche Barockmusik, Kleist-Gedenkstätte in Frankfurt/Oder, Akademie der Künste Berlin, Stiftung Luther-Gedenkstätten in Eisleben und Wittenberg und Lessing-Gedenkstätte

Kamenz.

 

Die neue Bundesregierung unter Gerhard Schröder mit Kulturstaatsminister Michael Naumann konnte das Parlament als den Haushaltsgesetzgeber davon überzeugen, dass ein zusätzliches Kulturförderprogramm aufgelegt werden sollte. Unter der Bezeichnung „Aufbauprogramm“ – später „Programm Kultur in den neuen Ländern“ – wurden im Etat des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die Jahre 1999 bis 2003 insgesamt 240 Millionen Euro bereitgestellt. Die Mittelzuweisung erfolgte auf der Grundlage eines an der Einwohnerzahl der neuen Länder orientierten Schlüssels. Sie machten Vorschläge für die einzelnen Fördermaßnahmen, zu denen sie die gleiche Summe beizusteuern hatten wie der Bund. Die Projekte sicherten die Grundsanierung oder längst fällige Reparaturen. Durch sie konnte auch unbrauchbar gewordene Theater- oder Museumstechnik erneuert und neue Brandschutz-, Umweltschutz- und Versicherungsbestimmungen berücksichtigt werden.

 

Der Fall der Mauer, die Wiedererlangung der Deutschen Einheit und die Entscheidung für Berlin als Bundeshauptstadt – festgelegt in Artikel 2 des Einigungsvertrages – veränderten zwangsläufig die Qualität der Bundeskulturförderung für Berlin. Die damals geteilte Stadt ist nun als Hauptstadt ein Symbol der politisch geeinten Nation. In seiner Hauptstadt wird der föderal geprägte Kulturstaat Deutschland mit seinem kulturellen Reichtum und seiner Vielfalt in besonderer Weise sichtbar. Traditionsgemäß war Berlin auch während der Teilung auf beiden Seiten der Mauer ein Ort kultureller Ereignisse von nationaler und internationaler Bedeutung.

 

Es erforderte besondere Anstrengungen wichtige, ehemals zentral geleitete repräsentative Kultureinrichtungen im Ostteil Berlins zu erhalten. Sie mussten an die westlichen Standards angepasst werden. Auch sollten die Arbeitsplätze für Kunstschaffende sowie sonstige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möglichst erhalten werden. Außer den Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Ostteil Berlins, vor allem der Museumsinsel ging es z. B. um die Staatsbibliothek Unter den Linden, das Deutsche Theater, die Komische Oper, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, das Berliner Sinfonieorchester, das Berliner Ensemble, das Brecht-Zentrum, den Friedrichstadt-Palast, die Akademie der Künste, das Maxim-Gorki-Theater, das Metropol-Theater, das Zeughaus als dem späteren Sitz des Deutschen Historischen Museums, die Staatsoper Unter den Linden, und den Martin-Gropius-Bau. Für diese und noch weitere repräsentative Kultureinrichtungen im Ostteil der Stadt erhielt Berlin über seinen Anteil am „Substanzerhaltungsprogramm“ hinaus eine zusätzliche Pauschale. Jede fünfte Mark der Übergangsfinanzierung Kultur floss in den Ostteil Ber-lins. Insgesamt waren das von 1991 bis 1994 etwa 558 Millionen D-Mark.

 

Nach den „Erstehilfe-Maßnahmen“ der Übergangfinanzierung kam es 1994 zum ersten Hauptstadt-Finanzierungsvertrag zwischen dem Bund und dem Land Berlin gefolgt von zwei Anschlussvereinbarungen die erste für den Zeitraum 2001 bis 2004 und der an-schließende Vertrag vom 9. Dezember 2003.

 

Das gemeinsame Engagement der neuen Länder und ihrer Kommunen sowie des Bundes mit seinen Unterstützungsleistungen hat sich insgesamt als wichtiger und wohl auch erfolgreicher Schritt auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands erwiesen. Auf künstlerisch-kulturellem Gebiet ist in Deutschland zwischen West und Ost dank der bis heute anhaltenden Fördermaßnahmen des Bundes für alle Bundesländer weitgehend Gleichstand erreicht. Die Kulturlandschaften der neuen Länder mit ihrem dichten Netz von eindrucksvollen Kultureinrichtungen und -ereignissen präsentierten sich in neuem Glanz. Sie wurden wieder attraktiv für die Menschen aus Deutschland und aller Welt. Insoweit konnte man mit Fug und Recht von blühenden Kulturlandschaften sprechen. Bis im Frühjahr 2020 das Coronavirus hereinbrach und auch das kulturelle Geschehen in West und Ost in den Würgegriff nahm. Die Hoffnung bleibt, dass im Lauf der Zeit der beeindruckende Entwicklungsstand des kulturellen Lebens in Gesamtdeutschland wieder erreicht wird.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/texte-zur-kulturpolitik/bluehende-kulturlandschaften/