Rolf Schmachtenberg - 29. März 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Balanceakt in der Krise


Künstlersozialversicherung und Corona

Die Zeiten sind schwer – keine Frage. Und in solchen Zeiten zeigt sich, ob wir Zusammenhalt organisieren können, ob unsere sozialen Sicherungsnetze funktionieren und wo mitunter Schwächen sind. Aber eins nach dem anderen.

 

Unbestritten, die Kultur- und Kreativszene leidet besonders stark unter der Pandemie. Kein Wunder, wenn das wichtigste Hilfsmittel gegen das Virus lautet: „Abstand halten!“. Die jüngsten Analysen von Prognos im Auftrag des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft sprechen im Jahr 2020 von Umsatzrückgängen von fast 20 Prozent in der Kulturwirtschaft insgesamt; in einzelnen Bereichen wie der Darstellenden Kunst gar von bis zu 85 Prozent. Für das Jahr 2021 sieht es nicht wesentlich besser aus. Und auch danach werden Kunst und Kultur vermutlich länger als andere Branchen brauchen, um die Folgen der Pandemie hinter sich zu lassen. Klar ist, dass dies durchschlägt auf die Einkommen von Kultur- und Kreativschaffenden; vor allem bei denjenigen, die als Selbständige arbeiten. Ebenso sinken die Umsätze und Honorarsummen der Branche, was wiederum zu massiven Rückgängen bei der Künstlersozialabgabe führt, die eine der Finanzierungssäulen der Künstlersozialversicherung ist.

 

Wegbrechende Einnahmen führen dazu, dass viele Kunst- und Kulturschaffende auch nach kurzfristigen Auswegen und Alternativen jenseits ihres künstlerischen Schaffens suchen. Sie empfinden dies häufig als Abwertung und mitunter auch als persönliche Kränkung. Wenn sich dann der Ausweg über eine neue Tätigkeit auf ihre Absicherung nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) auswirkt, irritiert dies. Rufe nach gesetzlichen Änderungen finden Echo in der Szene und in den Medien. Tenor: Die Versicherung in der Künstlersozialversicherung müsse ausgebaut werden, sie dürfe nicht enden, wenn Künstlerinnen und Künstler in Zeiten der Pandemie mehr als nur geringfügige Nebeneinkünfte aus einer nicht-künstlerischen Tätigkeit erzielen. Die entsprechenden Zuverdienstgrenzen müssten erhöht werden.

 

Diese Forderungen sind Zeichen einer großen Unsicherheit, was überhaupt mit dem Versicherungsschutz in der Künstlersozialversicherung passiert, wenn Versicherte zusätzliche Einkünfte haben. Daher hier der Versuch, die Dinge einmal der Reihe nach zu sortieren:

 

Richtig ist erstens: Die Künstlersozialversicherung ist seit fast vier Jahrzehnten für Künstlerinnen und Künstler die solide Grundlage ihrer sozialen Sicherheit. Falsch ist, dass die Künstlersozialkasse wegen der Krise reihenweise den Versicherungsschutz beendet. Olaf Zimmermann hat es in der letzten Ausgabe dieser Zeitung dankenswerterweise prägnant auf den Punkt gebracht. Und zur Wahrheit gehört auch: Die KSV wäre damit überfordert, in allen Lebenslagen sämtliche Risiken der Kulturschaffenden aufzufangen und auszugleichen.

 

Staat und Politik haben zweitens mit immens viel Geld in der Krise gegengesteuert. Die Bundesregierung hat nach dem ersten Lockdown Hilfsprogramme für Betroffene und Unternehmen auf den Weg gebracht, die auch Soloselbständigen und insbesondere Kunst- und Kulturschaffenden helfen. Dazu zählen die verschiedenen Wirtschaftshilfen, die Maßnahmen zur persönlichen Existenzsicherung durch einen vereinfachten Zugang zur Grundsicherung, der Kündigungsschutz für Mieter und Zahlungsaufschübe für Kleinstgewerbetreibende. Gerade der Bezug von Grundsicherung setzt aber anscheinend oft den Sprung über den eigenen Schatten voraus. Dabei sollte der Anspruch auf Hilfe im Bewusstsein jedes Einzelnen ein soziales Bürgerrecht sein. Auch die zusätzlichen Millionen aus dem Bundeshaushalt in 2021 zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes helfen in der Krise. Sie entlasten die abgabepflichtigen Unternehmen. Nicht zuletzt stellt die Aussetzung der jährlichen Mindesteinkommensgrenze nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz für die Jahre 2020 und 2021 sicher, dass kein Künstler oder Kulturschaffender wegen fehlenden Einkommens den Schutz in der Künstlersozialversicherung verliert.

 

Drittens: Wer bislang selbständig künstlerisch tätig und nach dem KSVG versichert ist und nun eine weitere, nichtkünstlerische Tätigkeit aufnimmt, kann – abhängig von den jeweiligen Umständen – weiter in der Künstlersozialversicherung versichert bleiben. Wichtig dabei ist vor allem die Höhe der Einkünfte. Für den Versicherungsschutz in der Rentenversicherung und in der Kranken- und Pflegeversicherung ergeben sich daraus allerdings gegebenenfalls unterschiedliche Auswirkungen:

 

Fall 1: Zusätzliche abhängige Beschäftigung

 

Hier ist relativ klar: Eine zusätzliche geringfügige Beschäftigung (Einkommen bis 450 Euro/Monat, 5.400 Euro/Jahr) bleibt für die Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung unbeachtlich. Bei darüber hinausgehenden Einkünften richtet sich die Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung nach der Haupttätigkeit. Dabei kommt es insbesondere auf einen Vergleich hinsichtlich Zeitaufwand und wirtschaftlichem Ertrag an. In der gesetzlichen Rentenversicherung kann demgegenüber bis zur Hälfte der sogenannten Beitragsbemessungsgrenze von 42.600 bzw. 40.200 Euro Jahreseinkommen verdient werden, ohne den Versicherungsschutz in der Künstlersozialversicherung zu verlieren.

Fall 2: Zusätzliche selbständige Tätigkeit

 

Hier endet die Versicherung nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, wenn die Einkünfte aus dieser Tätigkeit die Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro übersteigen. Die betreffenden Personen müssen sich dann – wie andere Selbständige auch – freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung oder privat absichern. Folge sind deutlich höhere Versichertenbeiträge als bei einer (Pflicht-)Versicherung nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz, bei der die Künstlersozialkasse den halben Beitragsteil übernimmt und eine niedrigere Mindestbemessungsgrundlage gilt. Für die gesetzliche Rentenversicherung gilt das Gleiche wie bei einer zusätzlichen abhängigen Beschäftigung. Bei einem Verdienst bis zur Hälfte der Beitragsbemessungsgrenze bleibt der Versicherungsschutz in der Künstlersozialversicherung bestehen.

 

Kurz und knapp: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Künstlerinnen und Künstler in der Rentenversicherung weiterhin nach dem KSVG versicherungspflichtig bleiben, in der Kranken- und Pflegeversicherung vielleicht aber nicht. Kritisiert wird vor allem der Fall, wenn sie mit einer zusätzlichen selbständigen Tätigkeit oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro im Monat bzw. 5.400 Euro im Jahr verdienen.

 

Auch wenn eventuell die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung unterbrochen wird und eine anderweitige Form der Absicherung vorübergehend abgeschlossen werden muss, gefährdet dies nicht die grundsätzliche Zugehörigkeit zur Künstlersozialversicherung. Sobald die Voraussetzungen für die Unterbrechung wegfallen, sind Versicherte – bei einer entsprechenden Benachrichtigung der Künstlersozialkasse – ohne Weiteres wieder in den Versicherungsschutz nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz einbezogen.

 

Das Sortieren der Dinge hat eine kritische Stelle herausgearbeitet: eine zusätzliche selbständige Tätigkeit oberhalb der Geringfügigkeitsschwelle. Auch wenn es sich dabei nicht um ein Massenphänomen handelt, sondern wohl eher um Einzelfälle, verstehe ich die Forderung nach einer Aussetzung oder Anhebung der Verdienstgrenzen bei einer weiteren selbständigen Tätigkeit, zumindest für die Zeit der Pandemie. Doch könnte eine solche pandemiebedingte Sonderregelung auf Kunst- und Kulturschaffende beschränkt werden? Selbständige mit gleicher Tätigkeit würden alleine deswegen ungleich behandelt, weil im einen Fall ein Versicherungsverhältnis bei der Künstlersozialkasse besteht, im anderen Fall aber nicht, und das auch unabhängig davon, ob eine künstlerische Tätigkeit überhaupt in nennenswertem Umfang ausgeübt wird. Das wäre sozial- wie ordnungspolitisch fragwürdig und aus Gleichbehandlungsgründen problematisch.

 

Gäbe es Alternativen? Perspektivisch wäre für mich erwägenswert, die Absicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung im Gleichklang zu einer abhängigen Beschäftigung auszugestalten – und auch bei einer weiteren nichtkünstlerischen selbständigen Tätigkeit das Kriterium der Haupttätigkeit zu betrachten. Dann könnten Versicherte eine weitere selbständige nichtkünstlerische Tätigkeit ausüben, ohne dass der auf die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung bezogene Versicherungsschutz in der Künstlersozialversicherung entfiele. Dieser Ansatz ist aber nichts für einen Schnellschuss. Insbesondere ist zu klären, wer wie feststellt, was Haupt- und was Nebenberuf ist. Es wäre aber den Schweiß der Edlen wert, diesen Ansatz genauer zu prüfen und mit allen Beteiligten zu erörtern.

 

Ein weiterer Ansatzpunkt wäre – und das gilt für alle Selbständigen ganz gleich, welcher Tätigkeit sie nachgehen – die Mindestbemessungsgrundlage von derzeit 1.096,67 Euro in der Kranken- und Pflegeversicherung aufzuheben. Anders als abhängig Beschäftigte zahlen Selbständige einen monatlichen Mindestbeitrag von rund 200 Euro, sofern ihr monatliches Einkommen zwischen Geringfügigkeitsschwelle und Mindestbemessungsgrundlage liegt. Ich halte es für überlegenswert, zumindest befristet für die Pandemie. Dies wäre ein handfester Beitrag, Selbständigkeit in der Krise zu stabilisieren. Dagegen wird angeführt, dass die Einnahmen der Kranken- und Pflegekassen einbrechen könnten, wenn massenhaft aufgrund niedriger Einkommen nur noch relativ niedrige Beiträge für den umfassenden Schutz dieser beiden Risikoversicherungen aufgebracht würden. Sollte sich dies bewahrheiten, so könnte immer noch gegengesteuert werden, indem eine solche pandemiebedingte Sonderregelung dann nicht verlängert würde.

 

Ja, ich gebe zu, für ein simples Schwarz-Weiß-Schema taugt das Ganze nicht, dafür sind die Dinge zu kompliziert. Und wir sollten uns bei allem Wünschenswerten nicht verzetteln. Wenn wir die Künstlersozialversicherung als wichtiges soziales Netz für die Künstlerinnen und Künstler in unserem Land unbeschadet durch diese schwere Krise und deren Eruptionen brächten, wäre wirklich viel erreicht. Ich bin zuversichtlich, dass dies mit der Unterstützung des Gesetzgebers auch weiterhin gelingt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.


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