Johann Michael Möller - 29. September 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Abscheu und Entsetzen sind nicht genug


Der Mangel an fundierter Ostkompetenz – und die Konsequenz für das deutsch-russische Verhältnis

Über das Offensichtliche soll man nicht streiten. Seit Alexej Nawalny in einer deutschen Klinik mit dem Tode rang, hat sich das Klima im deutsch-russischen Verhältnis dramatisch verschlechtert. Dabei ist der Mordanschlag auf den bekanntesten russischen Oppositionellen nur der vorläufige Endpunkt in einer langen Reihe vergleichbarer Fälle. 2006 wurde Alexander Litwinenko mit Polonium vergiftet; 2015 Boris Nemzow vor der Kremlmauer erschossen; 2018 folgte der Anschlag auf Sergej Skripal und seine Tochter in London; 2019 wurde ein tschetschenischer Oppositioneller im Berliner Tiergarten ermordet. Nicht zu vergessen: der Tod der mutigen Journalistin Anna Politkowskaja. Man hat sie aus dem Weg geräumt. Fast nie wurden die Hintergründe der Anschläge aufgeklärt, fast nie die wirklich Schuldigen zur Rechenschaft gezogen. Der gesellschaftliche Körper in Russland, urteilt der Ostkenner Manfred Sapper, sei inzwischen völlig vergiftet.

 

Man muss das gewissermaßen vor die Klammer schreiben, um sich überhaupt der Frage zuwenden zu können, wie es denn nun weitergehen soll mit dem deutsch-russischen Verhältnis. Dort hat sich inzwischen ein politischer Überbietungswettbewerb entwickelt in der Forderung nach Sanktionen und Konsequenzen und das Meinungsklima verschärft das Verlangen nach Ächtung. Doch Abscheu und Empörung ersetzen nicht Politik. Ein Konzept oder auch nur ein gemeinsames Vorgehen ist nirgends erkennbar. In dieser Krise wird wieder deutlich, wie sehr wir den Faden nach Russland verloren haben. Die deutsche Ostpolitik ist eine Schimäre, an die man den Glauben schon lange verloren hat.

 

Der politische Maschinenraum wird das natürlich bestreiten und auf seine funktionierenden „Formate“ verweisen. Doch der Esprit ist dahin und auch ein Großteil der Expertise. Russland ist zum Gassenhauer auf der innenpolitischen Bühne geworden. Selbst die Thronprätendenten um den CDU-Vorsitz singen ihn eifrig mit. Man muss unweigerlich an das Bild von den Schlafwandlern denken, das Christopher Clark für politischen Leichtsinn gewählt hat. Und man hat das Gefühl, sich auf einer abschüssigen Bahn zu befinden. Niemand will wissen, wohin sie noch führt. Es gibt kaum eine besonnene Stimme mehr, die sich öffentlich noch bemerkbar macht. Viele der alten Russlandexperten leben nicht mehr oder haben den politischen Betrieb inzwischen verlassen. Die deutsch-russischen Beziehungen sind zu einem undankbaren Thema geworden, von dem man gerne die Finger lässt. Der neue Koordinator der Bundesregierung versteht etwas von Deichbau und Energiepolitik. Man kann ihm nur Glück für sein neues Amt wünschen.

 

Wie soll man den Zustand überhaupt nennen, der das Verhältnis zu Russland bestimmt? Von Eiszeit zu reden wäre doch nur eine Metapher. Ob er sich wieder an den Kalten Krieg erinnert fühle, wollte ich neulich von dem russischen Militärexperten Alexander Golz wissen. Er antwortete mit einem überraschenden Nein. Damals, so seine Begründung, habe es wenigstens eine stabile Sicherheitsarchitektur gegeben und darüber hinaus ein belastbares Geflecht persönlicher Beziehungen. Man kannte sich immerhin auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Heute kann davon keine Rede mehr sein.

 

Auch die großen Hoffnungen, die man auf den Dialog der Zivilgesellschaften gesetzt hat, haben sich nicht erfüllt. Es ist erschreckend, wie wenig wir voneinander wissen und wie schwer es uns fällt, die anderen Sichtweisen zu begreifen. Der Horizont ist wieder eng geworden in der Betrachtung des anderen. Die alte Kreml-Astrologie ist zurückgekehrt.

 

Das hat auch mit mangelnder Expertise zu tun. Man will nicht glauben, dass ausgerechnet die renommierte deutsche Osteuropaforschung nach dem Ende des Kommunismus dem Rotstift zum Opfer fiel. Nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts glaubte die Politik allen Ernstes, so der Osteuropahistoriker Hans-Henning Schröder, „keinen Bedarf an Russland- und Osteuropakompetenz mehr zu haben“.

 

Man erzählt sich in diesen Kreisen gerne die Geschichte des später berühmten George F. Kennan, den das US-State Department als jungen Diplomaten 1929 zuerst nach Berlin geschickt hatte, um ihn auf seine Arbeit an der amerikanischen Botschaft in Moskau vorzubereiten. Das ist lange her. Heute fällt die Bilanz ziemlich ernüchternd aus. Renommierte Institute wurden aufgelöst, die großen Zentren der Forschung geschwächt. 62 Lehrstühle gingen bis 2008 verloren, weshalb die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde von einem „in Europa beispiellosen Abbau“ sprach. Wichtige Themen gingen verloren. Mit dem Ergebnis, dass es an deutschen Universitäten keinen Experten mehr gibt, der sich mit russischer Außenpolitik auskennt. Von „mutwilliger Vernachlässigung“ sprach die FAZ damals.

 

Doch dann begann sich die politische Großwetterlage zu ändern und die Dissonanzen mit Russland nahmen von Jahr zu Jahr zu. Plötzlich wurde das Fehlen entsprechender Kompetenzen in Deutschland sichtbar. Der Abriss zeigt sich bis jetzt in erschreckender Schärfe. Damals wurde die Idee eines beratenden Osteuropazentrums in Berlin geboren. Die Politik begriff, dass sie Hintergrundwissen braucht. Man kann es kurz machen mit dieser Geschichte: Im Frühjahr 2017 nahm das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, das ZOiS, seine Arbeit auf. Man wollte die „verloren gegangene Osteuropa- und Russlandkompetenz in Deutschland neu aufbauen“. Doch die Bilanz nach drei Jahren fällt eher ernüchternd aus. Die „schmale Produktion“ des Instituts lasse „zu wünschen übrig“, sagen die Kritiker. Zur dramatischen Entwicklung in Belarus habe das ZOiS „kaum etwas beizutragen“ und für die „harten Themen“ fehle die Kompetenz. Die schmerzhaften Defizite in der Forschung, so der mit der Institutsgründung bestens vertraute Osteuropahistoriker Hans-Henning Schröder, hätten sich jedenfalls nicht spürbar verringert.

 

Man fragt sich in der Tat, wie lange sich die Politik das noch leisten will, wie lange sie geschlagen sein möchte mit selbstverschuldeter Blindheit. So bitter es klingt: Vielleicht musste ein tragischer Fall wie Nawalny erst passieren, damit man in Deutschland wieder begreift, dass es ohne fundierte Ostkompetenz, ohne fundierte Kenntnis der Länder des ehemaligen Ostblocks nicht geht. Abscheu und Entsetzen sind nicht genug. Ausreichende Forschung wäre ein Gebot dieser Stunde.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.


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