Anna Grosskopf - 28. Mai 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Insekten & Kultur

Von Schmetterlingen und Libellen


Insekten im Jugendstil

In seinem 1896 veröffentlichten Gedicht „Mittag“ besingt Rainer Maria Rilke die „schillernde, schnelle Libelle“ und macht das Insekt zum Träger einer symbolistischen Naturempfindung: „Wie über dem blauen Waldsee schwer | Hinlastet schwärmendes Schweigen. | Ein Raunen, ein heimliches, zittert noch her | Von blütenbezwungenen Zweigen.“ Man glaubt bei diesen Worten förmlich in die lyrische Traumwelt des Jugendstils einzutauchen, in der jedem Detail eine eigene, tiefere Bedeutung zukommt.

 

Der Jugendstil gilt gemeinhin als floraler Stil, doch auch die Fauna fand in der schönlinigen Kunst um 1900 weithin Beachtung. Tiere wurde aufgrund ihrer dekorativen Wirkung geschätzt – wie der Pfau mit seinem prächtigen Federkleid und der Schwan mit seinem elegant gebogenen Hals – oder aufgrund der Symbolik, die sie transportierten. Im Zuge eines neuen Naturverständnisses widmete sich die Kunst auch unscheinbaren, bislang wenig beachteten Arten, insbesondere Insekten, die sich naturgemäß gut mit Pflanzendarstellungen kombinieren ließen. Käfer, Heuschrecken und sogar Spinnen, auf taubedeckten Blüten und zart gebeugten Halmen, bevölkern so manche kostbare Vase und so manches zierliche Teeservice. Gerade die intime Nahsicht auf ein verborgenes, eigentlich unspektakuläres Stück Natur macht den besonderen Reiz dieser Stücke aus. Nicht das Majestätische und Erhabene, sondern die Welt im Kleinen wird so ganz beiläufig in die künstlerisch gestaltete Wohnung gebracht.

 

Eine wichtige Anregung für Insektendarstellungen im Jugendstil bot die japanische Kunst, die Insekten und Kleintieren, ja generell dem Naturdetail im Gegensatz zur weiten Landschaft, schon immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Japanisches Kunsthandwerk, Farbholzschnitte und insbesondere die Manga des Katsushika Hokusai waren um 1900 in Europa weit verbreitet und wurden im Zuge des Japonismus von Künstlern und Gestalterinnen breit rezipiert. Weitere Impulse lieferten die Naturwissenschaften: Ernst Haeckels berühmtes zoologisches Bildkompendium „Kunstformen der Natur“ (1899–1904) enthielt neben Medusen, Krebsen und Radiolarien auch Arachnida, Spinnentiere, deren eigentümliche Ästhetik so zum Vorbild mannigfaltiger dekorativer Gestaltungen wurde. Die Ornamentalisierung des symmetrischen Insektenkörpers führte Maurice Pillard Verneuil in seinem hinreißenden Mappenwerk „L’animal dans la décoration“ von 1897 eindringlich vor. Und selbst materialiter waren Insekten für die Kunst von Interesse: Der metallisch schimmernde Chitinpanzer mancher Käferarten inspirierte irisierende Gläser und Keramikglasuren, etwa in den böhmischen Amphora-Werken, und in dekorativen Oberflächengestaltungen, etwa auf Tischplatten oder Tabletts kamen mitunter sogar echte Schmetterlingsflügel zum Einsatz.

 

Zwei Spezies aus dem großen Insektenreich lassen sich mit einigem Recht als Wappentiere des Jugendstils bezeichnen: Der Schmetterling und die Libelle, deren motivische und ornamentale Verwendung in nahezu allen Bereichen der dekorativen Kunst beinahe endlos variiert wird.

 

Der Schmetterling war ein Lieblingsmotiv der École de Nancy, insbesondere Émile Gallés, der ihn sowohl in der Glaskunst als auch als Marketerie auf seinen Möbelentwürfen häufig darstellte. Nicht nur die filigrane, schillernde Erscheinung dieses Tieres entspricht dem Geist des Jugendstils, sondern auch seine weitreichende Symbolik, die schnell in den Bereich des Märchenhaften und Unergründlichen führt. Als Symbol der Seele erscheint der Schmetterling sowohl in der abendländischen Antike als auch in der Kunst des Fernen Ostens – eine Vorstellung, die der Symbolismus nur zu gern adaptierte und die auch im Jugendstil ein lebhaftes Echo fand. Der kurzlebige, fragile Schmetterling verweist auf die Schönheit und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz und wird gern von Sentenzen begleitet, so etwa auf einer Tischplatte von Émile Gallé: „Beati mites quoniam ipsi possidebunt terram.“ (Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.)

Die Libelle gehört zu den räuberischen Insekten und folgt dementsprechend einer anderen Symbolik. Hier ist es der Kontrast zwischen dem schlanken, zerbrechlich wirkenden Körper mit schimmernden durchscheinenden Flügeln und einer als grausam empfundenen Jagdpraxis, bei der das Beuteinsekt buchstäblich in der Luft zerrissen wird. Als am Wasser lebendes Insekt gehört die Libelle in den Motivkreis der vom Jugendstil gleichermaßen geliebten Seerosen und Wasserlilien. Sie ist ein häufiges Motiv der Schmuckkunst, etwa von René Lalique, der für ihre netzartigen Flügel eine besonders anspruchsvolle Emailtechnik verwandte. Die Fähigkeit der Libellen, mit ihrem Körper einen Halbkreis zu bilden, machte sich außerdem die Gefäßkunst zunutze. So bilden plastisch ausgeformte Libellen die Henkel in Alf Wallanders berühmtem Libellenservice für die schwedische Porzellanfabrik Rörstrand.

 

Schmetterling und Libelle wurden in der Kunst um 1900 gleichermaßen mit populären Klischeebildern des Weiblichen assoziiert, so dass eine Vielzahl von Mischwesen aus Frau und Insekt den Bildkosmos des Jugendstils bevölkert. Dabei verkörpern die beiden Tiere verschiedene, ja sogar antagonistische Frauentypen des Fin de Siècle: Der zarte Schmetterling steht für die Zerbrechlichkeit der „Femme fragile“, der Giacomo Puccini mit seiner Oper „Madame Butterfly“ ein musikalisches Denkmal gesetzt hat. Wie der Schmetterling ist die „Femme fragile“ ätherisch und flüchtig, für den Mann nicht greifbar, und kann nur um den Preis ihres Todes dauerhaft in Besitz genommen werden. Ganz anders die „femme fatale“, deren Schönheit selbst todbringend ist. Die vermeintliche Bedrohung, die von ihrer promiskuitiven Sexualität ausgeht, wird im Bild der räuberischen Libelle gebannt. So kombiniert Laliques „femme libellule“ die zerbrechliche Schönheit einer jungen Frau mit den krallenbewehrten Klauen eines Raubtiers zu einem rätselhaft ambivalenten Fabelwesen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.


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