René Lang - 3. Mai 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Modekultur

Mode ist die Schwester der Kunst


Einblick in die Mode- und Textilindustrie

Können wir den Begriff „Mode“-Industrie wirklich aus Überzeugung verwenden, oder ist nicht vielmehr von der Bezeichnung Bekleidungs- und Textilindustrie inklusive die Bereiche Schuhe, Accessoires etc. auszugehen? Dies soll keineswegs eine Beurteilung nach den Kriterien gut oder schlecht darstellen, sondern eine etwas präzisere Positionierung der gegebenen Inhalte. Für mich bedeutet Mode zuerst eine Form des kulturellen Daseins und der kulturellen Teilhabe. Mode ist eine Sprach- und Ausdrucksform, sie kann, basierend auf ihrer historischen Vorgeschichte, ausgesprochen elitär und abgrenzend und gleichzeitig inte­grierend sein. Als Beispiel sei hier die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation durch die verschiedenen Trachten, sowohl im Hinblick auf lokale als auch auf gesellschaftliche Strukturen hingewiesen.

 

Die Mode hat aber auch gesellschaftliche Veränderungen und Verbesserungen sichtbar gemacht und verbreitet. Sie ist auf jeden Fall in ihrem Ursprung ausdrucksvoll, individuell und permanent auf ständige Veränderung und Erneuerung eingestellt. Mode ist für mich eine Schwester der Kunst – beide sind weit davon entfernt, inflationär in großen Mengen zu entstehen und verbreitet zu werden.

 

Und doch, die Mode definierte immer gewisse Parameter, die umgewandelt in eine allgemein verständliche Sprache die „Bekleidung“ in ihrem Schlepptau mit sich zieht und diese quasi als reduzierte Leichtversion für alle zugänglich und konsumierbar macht. Bekleidung folgt teilweise den Impulsen der Mode, kann jedoch aber auch vollkommen losgelöst davon allein durch Funktion, technische Innovation und elementarem Nutzwert definiert sein.

 

Somit sind wir nun bei der Bekleidungsindus­trie angelangt. Sie ist, um einen bildhaften Vergleich zu formulieren, wie viele andere Branchen ebenfalls, ähnlich einer Pyramide aufgebaut:

 

Die Spitze, quasi das Sahnehäubchen, ist die Haute Couture, die hohe Schneiderkunst, die sich primär mit maßgeschneiderter Individualität beschäftigt und über fast unbegrenzte Möglichkeiten in Formen und Materialität verfügen kann, jedoch nur einige ausgesuchte französische und wenige nichtfranzösische Spitzenschneider dürfen sich mit diesem Prädikat schmücken, und hier verhält es sich wie bei Champagner versus Sekt, auch manch deutscher Meister der Schneiderkunst ist in der Lage, in dieser Liga mitzuspielen, ohne den aussagekräftigen Namen verwenden zu dürfen. Die etwa in den 1920er Jahren entstandenen Wurzeln sind durchaus vergleichbar, das weitere Wachstum jedoch nicht. Während sich in ­Paris aus einigen kleinen Manufakturen weltweit agierende Unternehmen entwickelt haben und nun durch die Erweiterung ihrer Produktpaletten durchaus auch als Industrie zu bezeichnen sind, hat die geschichtliche Entwicklung in Deutschland die Prosperität unseres „Couture-Wesens“ verhindert: die ebenfalls in den 1920er Jahren existierenden vornehmlich jüdischen Spiztenschneidereien in Berlin konnten im Naziregime nicht überleben, die deutschen Couture-Schaffenden wie Heinz Oestergaard, Gerd Staebe und Hans Segner, Detlev Albers und Uli Richter, die in den 1950er Jahren die Tradition der Deutschen Couture wieder aufleben ließen, erreichten nie das Renommee und die wirtschaftliche Bedeutung ihrer französischen oder auch italienischen Kollegen.

 

Verlassen wir nun den „Olymp“ der maßgeschneiderten Mode und der wohlklingenden sowie hohes Ansehen versprechenden Namen der großen Kreateure und begeben uns auf die Ebene der sogenannten Prêt-à-porter, einer etwas abgespeckten und in überschaubarer Quantität hergestellten „Adoptivtochter“. Prêt-à-porter ist industriell vervielfältigt und sofort verfügbar, Haute Couture wird auf Bestellung angefertigt. Sinn der Ersteren ist, die Mode anderen Kreisen zugänglich zu machen und sie weiter zu verbreitern.

 

Mangels der wenig bis nicht existenten deutschen Beteiligung im Reigen der glamourösen Modehäuser und Designernamen gibt es folgerichtig auch so gut wie keine deutsche Prêt-à-porter-Schaffenden. In der Liste der international erfolgreich agierenden und stilprägenden Marken ist der Anteil der deutschen Unternehmen ebenfalls verschwindend gering, wenn es auch einige unserer Unternehmen geschafft haben, sich hier in einer wichtigen Position zu halten. Ich erinnere dabei z. B. an die bekannten Namen, wie ehemals Escada oder Strenesse, heute noch Jil Sander, Wolfgang Joop und die Firma Boss.

 

An der Spitze der Pyramide stehen auch im nun industriellen Bereich eine Vielzahl von richtungweisenden und stilprägenden Unternehmen, die in erster Linie von Modedesignern, d. h. aus der Kreation heraus, geprägt und getrieben werden und daher in meiner Definition in erster Linie Impulsgeber für die „Mode“ sind und deren Inspirationen erst nach einer gewissen temporären Distanz und möglicherweise ­etwas vereinfacht im Bereich Bekleidung in Erscheinung treten.

 

Wenn nun auch, wie schon erwähnt, die meisten der großen deutschen Bekleidungs- und Textilunternehmen nicht unbedingt zur kreativen internationalen Spitze zählen mögen, so ist dennoch ihre Wichtigkeit und ihre Funktion im Gesamtbild unübersehbar. Die erkennbare Stärke liegt für mich ­definitiv in der Mitte der Pyramide. Die noch existierenden Unternehmen bilden eine enorme Wirtschaftskraft, die im Vergleich mit den adäquaten europäischen Firmen sowohl in der Anzahl als auch im Gesamtumsatzvolumen auf dem zweiten Platz liegt. Rund 66 Milliarden im Jahr 2019 mit ca. 1,3 Millionen Beschäftigten stellen Zahlen dar, die auch stärker von der Politik erkannt und gewürdigt werden sollten. So ist auch das Image unserer Unternehmen sowohl im In- als auch Ausland positiv, Werte wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Geschwindigkeit werden nach wie vor mit „Made in Germany“ in Verbindung gebracht.

 

Vieles hat sich in den letzten 40 Jahren verändert, die Mega-Konzerne wie z. B. Steilmann oder die Hucke-Gruppe sind verschwunden, die Produktion wurde weitestgehend ausgelagert, Portugal, Türkei, Fernost und inzwischen zunehmend Afrika standen und stehen im Fokus, der ständige Preiskampf verlangte nach immer billigeren Produktionsmöglichkeiten. Dieser Wettbewerb beeinflusste ebenfalls die jahrelange Marktüberschwemmung durch die von manchen Unternehmen lancierte Produktion von monatlichen Kollektionen oder Kollektionssegmenten.

 

Ein Großteil der Marktführer ist längst vertikal aufgestellt, d. h., man verlässt sich nicht mehr nur auf den einschlägigen Fachhandel, sondern sorgt durch eigene Vertriebskanäle für die Distribution, der Onlinehandel floriert zunehmend, die noch vor einigen Jahren als wichtig erachtete Gestaltung von saisonal Jahreszeiten abhängigen Kollektionen hat zunehmend an Bedeutung verloren. Die Digitalisierung hat sowohl in der Gestaltung als auch im Handling der Produkte Einzug gehalten; kaum ein Designer im großindustriellen Bereich stellt seine Ideen noch auf Papier dar, digitale Baukästen optimieren seine Produktivität, automatisierte Produktdatenmanagement-Systeme haben die Beschaffungs- und Verwaltungslogistik übernommen. Das PDM, das sogenannte Product Data Management, begleitet als Ideengrundlage sämtliche Komponenten des Artikels und der Produktrange von den auf der Analyse und nach möglicher Umsatzwahrscheinlichkeit ausgewerteten Daten bis hin zum Handel, um dort wiederum evaluiert zu werden.

 

All dies gilt nicht nur für den mittleren Bereich der Pyramide, sondern auch noch intensiver für die Ebenen darunter. Wir nähern uns hier dem am breitesten aufgestellten Bereich der Massenproduktion: Kaufhauskonzerne und Versender mit ihren Eigenmarken sowie auf der untersten Preisstufe die Discounter, die ebenfalls mit ihren „Private Labels“ einen sehr großen Anteil am Markt der Bekleidung ausmachen.

 

Wie bereits erwähnt, vieles hat sich bis heute im Erscheinungsbild und den Funktionsprinzipien der Bekleidungs- und Textilindustrie verändert und noch viel mehr an Veränderung ist gerade in der Bewegung. Einsicht und Absicht,– viele auch der großen Unternehmen haben die Notwendigkeit des akuten Handlungsbedarfes erkannt: zurück zu längeren Kollektionsintervallen, technologische Innovation als Überlegens- und Wachstumsgarant, Abkehr von Fast Fashion, radikaler Abbau der Überproduktion, Produktion on demand und „Customized Tailoring“, die Berücksichtigung nachhaltiger und sozial verträglicher Herstellungs- und Transportmöglichkeiten, sowie den additiven Wiederaufbau lokaler Arbeitsplätze.

 

Ein letzter Unternehmensbereich, stellt für Designer eine wirklich erfreuliche weitere Perspektive dar. Es ist zu erkennen, dass sich in den letzten Jahren verstärkt neue besonders designorientierte Firmen gegründet haben und gründen werden. Diese kleinen und kleinsten unabhängigen Einheiten sind, aus der Kreation kommend, weitaus stärker mit dem Begriff Mode, wie ich ihn verstehe, verbunden, fast ausnahmslos der Nachhaltigkeit verpflichtet, und zumindest in der Anfangsphase sehr nahe am Handwerk. Sie lieben die Individualität und sind hochmotiviert positive Veränderungen mitzugestalten. Dies ist die Chance, der Mode wieder eine sprechende Form zu geben und diese auch in Deutschland als Kulturgut zu implementieren.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/22.


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