Immanente Inszenierung
Hat die klassische Modenschau ausgedient?
Am 12. Februar 1858 fand sich eine exklusive Gästeschar in der Rue de la Paix in Paris ein. Der Brite Charles Frederick Worth hatte zu einer Premiere geladen: Zum ersten Mal zeigte der als einer der Begründer der Haute Couture geltende Modeschöpfer seine Entwürfe nicht wie damals gemeinhin üblich an Puppen, sondern an lebendigen Mannequins. Statt professioneller Models führten zwar Verkäuferinnen aus Worths Salon dessen Kreationen vor, aber der Grundstein für die Modenschau war gelegt.
164 Jahre später wurde wieder eine Premiere mit Spannung erwartet: Am 24. März 2022 startete die erste Fashion Week im „Metaverse“, einer virtuellen Welt, in der Nutzer als Avatare Spiele spielen, arbeiten, Grundstücke erwerben und seit Neuestem auch eine Modewoche besuchen können. Labels wie Etro, Dolce & Gabbana und Tommy Hilfiger zeigten hier digitale, zum Teil auch käuflich erwerbbaren Entwürfe, als Models fungierten Avatare.
Zwischen diesen beiden Premieren liegen unzählige Defilees von Couturiers in kleinem Kreis, spektakuläre Großveranstaltungen, wie Performancekunst anmutende Schauen, ein immer enger getakteter internationaler Modewochen-Kalender, der Aufstieg der sozialen Medien und schließlich die Coronapandemie. Letztere ließ in der Modewelt schon länger gestellte Fragen noch lauter werden: Wie präsentiert man heute Mode? Ist es noch zeitgemäß, rund um den Globus zu Fashion Weeks und Cruise Shows zu fliegen? Und ist die Zeit elitärer Zirkel, die über Trends entscheiden, nicht längst vorbei?
Das US-Magazin „Nylon“ fragte bereits 2018, ob Schauen noch nötig seien. Schließlich erlaubten es die technischen Möglichkeiten, eine Kollektion zu sehen, die tausende Kilometer entfernt präsentiert wird, ob per Livestream, Aufzeichnung oder Instagram-Story. Herrscht doch einmal Handyverbot, ist das internationalen Medien eine Meldung wert, so wie 2019 bei der „Fenty x Savage“-Show von Musikerin und Designerin Rihanna in New York.
Viele sehen in der Digitalisierung Vorteile: Stundenlanges Warten und die Suche nach dem eigenen Platz entfallen, jeder sitzt in der ersten Reihe, Kameras zoomen auf Details der Outfits und zeigen sie aus der Vogelperspektive. Und nach der Show muss sich niemand durch die Menge drängeln, die nächste Präsentation ist schließlich nur einen Klick entfernt.
Die Möglichkeiten sind vielfältig: Im Sommer 2020 zeigte Dior seine „Cruise-Collection“ im apulischen Lecce fast ganz ohne Publikum vor Ort, aber online. John Galliano setzte für Maison Margiela seit der Pandemie mehrfach auf das Medium Film, bediente sich mal dokumentarischer, mal collagenhafter Techniken. Bei Balenciaga zollte man im Oktober 2021 nach der Pariser Laufsteg-Show mit einer zehnminütigen Sonderfolge der Comicserie „The Simpsons“ dem eigenen Mode-Erbe Tribut und erreichte so ein neues Publikum. Das konnte ein halbes Jahr später online bei der vieldiskutierten Balenciaga-Show dabei sein, bei der die Models sich durch eine dystopische Sturm-Kulisse kämpften.
Das alles klingt sehr innovativ. Aber es hat auch etwas Pragmatisches. Dass sie mehr ist als das, grenzt aber Mode, vor allem Haute Couture, von Kleidung ab. Mode ist nicht denkbar ohne Haptik, Gefühl und eine gewisse Theatralik. Sie ist nicht nur rein funktional; die Inszenierung ist ihr immanent. Seit den 1990er Jahren überboten selbst zu Stars gewordene Designer wie Karl Lagerfeld, John Galliano und Alexander McQueen einander mit Spektakeln. McQueen schuf im September 1998 ein besonders bleibendes Bild: Beim Finale seiner Show „Nr. 13“ drehte sich das Model Shalom Harlow im weißen Kleid zwischen zwei Robotern, die sie mit gelber und schwarzer Farbe besprühten. Die Szene ging um die Welt, wer damals im Publikum saß, zeigte sich noch Jahrzehnte später beeindruckt vom Erlebten.
Dieses – gemeinsame – Erlebnis hat noch kein virtuelles Pendant. Die Ähnlichkeiten zu Entwicklungen am Theater sind frappierend, auch hier wird seit der Pandemie verstärkt mit Livestreams, Aufzeichnungen und Virtual Reality experimentiert. Theater und Mode stehen vor demselben Problem: Die Regungen und Reaktionen der Sitznachbarn, ob vor Begeisterung oder Entrüstung, sind digital nicht spürbar.
Mode transportiert Gefühle, Stimmungen, im besten Fall den Zeitgeist. So wie eine Modenschau 1973 in Versailles, der Pulitzer-Preisträgerin Robin Givhan ein ganzes Buch widmete: „The Battle of Versailles“. Fünf renommierte französische Häuser, darunter Dior und Givenchy, traten im Rahmen einer Spendengala gegen international noch weniger bekannte US-Labels an, unter anderem Oscar de la Renta und Bill Blass. Die Amerikaner setzten den Franzosen nicht nur modisch etwas entgegen, auch ihre Modelauswahl spiegelte den gesellschaftlichen Wandel wider: Von rund 40 Models waren zehn Afroamerikanerinnen.
Fast 50 Jahre später gehört Diversität nicht nur bezogen auf ethnische Vielfalt zum guten Ton. Bereits seit 2015 ist es in Frankreich gesetzlich verboten, zu dünne Models zu beschäftigen, ähnliches gilt in Spanien, Italien und Israel. Models wie Ashley Graham und Paloma Elsesser mit üppigeren Maßen sind immer präsenter, Winnie Harlows Vitiligo-Erkrankung wird nicht vor der Kamera versteckt, Valentina Sampaio eroberte 2019 als erstes Transgender-Model den „Victoria’s Secret“-Laufsteg. Digital wird die Diversität auf die Spitze getrieben: Auf der „Metaverse“-Modewoche zeigte Dolce & Gabbana sogar Model-Avatare mit Katzenköpfen.
Die virtuellen Möglichkeiten scheinen unendlich zu sein. Dennoch seien physische Schauen nicht ersetzbar, zitierte die Süddeutsche Zeitung Ende 2021 Pascal Morand, den Geschäftsführer der Fédération de la Haute Couture et de la Mode. Die Aufregung vor der Show, das Stimmengewirr im Publikum, der Lufthauch der vorübergehenden Models, die Blicke der anderen Gäste, die zwischen Erleichterung und Stolz schwankenden Mienen der Designer danach, das alles lässt sich online nur schwer abbilden. Und auch das Gefühl, dabei sein zu dürfen, gehört zu eben jenen Begehrlichkeiten, mit denen die Luxusindustrie seit jeher spielt. Es ist wie im Theater: Nicht für jede Premiere gibt es noch Restkarten.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/22.
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