Nina Kiel - 1. September 2017 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kulturgut Computerspiele

Mehr als nur Lara Croft


Das Geschlecht in Computerspielen

Die Identifikation mit fiktiven Persönlichkeiten ist kein neuer Prozess. Doch im Gegensatz zu Romanen und Filmen bieten digitale Spiele zugleich die einzigartige Möglichkeit, eine künstlich geschaffene Welt direkt zu beeinflussen, anstatt sie nur zu beobachten. Diese Eigenschaft ist dem Medium seit jeher zu eigen, erst langsam jedoch ergründet es dieses Potenzial im Hinblick auf Geschlechterrollen.

 

Über Jahrzehnte hinweg galten digitale Spiele als Männerdomäne. Diese Wahrnehmung war nicht zuletzt dem Ursprung des Mediums geschuldet, denn in den computerwissenschaftlichen Forschungsinstituten der 1950er und 1960er Jahre arbeiteten nur wenige Frauen. Dennoch richteten sich die ersten Spielkonsolen, die als Spielzeuge und Freizeitspaß für die ganze Familie vermarktet wurden, zunächst auch an Mütter und ih­re Töchter. Das änderte sich erst, als 1983 der nach seinem rasanten Wachstum übersättigte Spielemarkt in sich zusammenbrach und die verbliebenen, der Insolvenz entgangenen Spielefirmen eine inhaltliche Neuausrichtung beschlossen. Diese sah vor, digitale Spiele nicht mehr als Spielzeug, sondern als hochwerti­ge Technikprodukte zu vermarkten. Damit einher ging ein stärkerer Fokus auf die größte demografische Gruppe unter den Spieler_innen, der es ermöglichte, Neuerscheinungen zielgerichteter zu bewerben. Fortan richtete man sich also vor allem an männliche Jugendliche und grenzte Mädchen wie Frauen bewusst aus.

 

In den folgenden Jahren wurden Männer mit zunehmender Häufigkeit als taffe Actionhelden und weibliche Figuren in erster Linie als Opfer, Trophäen und erotische Anschauungsobjekte inszeniert. Die typische Frau im Spiel war hübsch, sexy und hilflos. Aufgebrochen wurde dieses Muster nur selten. Eines der bekanntesten Beispiele für die Umkehr von Rollenklischees ist „Metroid“, das 1986 für Nintendos Entertainment System erschien und mit den Erwartungen seiner überwiegend männlichen Spielerschaft brach: Unter dem gepanzerten Raumanzug der Hauptfigur steckte nämlich, wie sich erst zum Ende des Spiels zeigte, kein Mann, sondern eine 1,90 Meter große, blonde Frau.

 

Ungeachtet seines Erfolgs schuf „Metroid“ jedoch keine Grundlage für ein vielfältigeres Geschlechterverständnis im Spiel. Ehe mit Lara Croft eine weitere Frau die Branche im Sturm eroberte, verging ein ganzes Jahrzehnt, und ihre Popularität ließ sich nicht nur auf ihre Kompetenz und Abenteuerlust, sondern auch auf einen überzeichneten, barbie-ähnlichen Körper zurückführen, der in den Marketingkampagnen für „Tomb Raider“ gezielt erotisch inszeniert wurde. Nichtsdestotrotz hat die bis heute fortdauernde Spielereihe maßgeblich dazu beigetragen, die Präsenz weiblicher Protagonisten zu normalisieren.

 

Mittlerweile bietet die Spieleindustrie eine deutlich erweiterte Auswahl von Rollenvorbildern für Spieler_innen an. In „Heavy Rain“ werden sie in das Leben eines depressiven Vaters versetzt, der seinen Sohn vor einem Serienmörder zu retten versucht; „Mirror’s Edge“ lässt sie mit den flinken Beinen der Parcoursläuferin Faith über die Dächer einer fiktiven Großstadt springen, um ein totalitäres Regime zu unterwandern; und in „Night In the Woods“ schlüpfen sie in die Rolle einer jungen Unruhestifterin, die nach einem abgebrochenen Studium in ihre von Arbeits- und Perspektivlosigkeit geplagte Heimat zurückkehrt. Dies sind nur einige der Titel, die in jüngerer Vergangenheit Alternativen zu den bisher gängigen Stereotypen vorstellten. Gerade in den kleinen, oft mit minimalen Budgets operierenden Entwickler_innenteams, entstehen seit Jahren innovative Konzepte, die einen neuen Blick auf die virtuelle Welt eröffnen. Dass dabei selbst kuriose Nischenthemen auf großes Interesse stoßen können, zeigte zuletzt die Dating-Simulation „Dream Daddy“, in der ein homosexueller Mann mit anderen alleinerziehenden Vätern flirten und Beziehungen aufbauen kann. Bereits kurz nach seinem Erscheinen wurde der Titel zum „Topseller“ auf Steam, der weltweit größten Online-Plattform für digitale Spiele.

 

Diese Entwicklung hin zu mehr Perspektivvielfalt wird jedoch nicht nur positiv aufgenommen. Gerade online werden immer wieder Stimmen laut, denen zufolge es sich bei dem Streben nach Geschlechtervielfalt um den Versuch handelt, die bisherige – und laut eigenem Empfinden einzig relevante – Zielgruppe aus dem Medium zu verdrängen. Besonders deutlich zeigte sich dies, als die kanadisch-amerikanische Medienkritikerin Anita Sarkeesian 2012 auf der Spendenplattform Kickstarter eine Videoreihe ankündigte, die der stereotypen Darstellung von Frauen in Spielen gewidmet sein und dazu beitragen sollte, einen kritischen Diskurs in der Öffentlichkeit anzustoßen. Unmittelbar nach der Ankündigung wurde Sarkeesian zum Ziel wütender Beleidigungen und massiver Drohungen, die bis heute anhalten.

 

Auch in Teilen der Spieleindustrie herrscht weiterhin die Annahme, dass die Spielerschaft überwiegend heterosexuell und männlich sei, obwohl Statistiken dies klar widerlegen. Das hat Konsequenzen. Als etwa das französische Studio Dontnod mit dem Prototypen seines 2013 veröffentlichten Spiels „Remember Me“ bei Publishern vorstellig wurde, begründeten mehrere von ihnen ihr Desinteresse damit, dass die Hauptrolle im Spiel einer Frau zukommen sollte. Insbesondere die Sexualität der Protagonistin war ein Grund zur Sorge, wie Creative Director Jean-Maxime Moris erklärt: „Wir wollten (ihr) Privatleben andeuten, was auch bedeutete, dass wir z. B. an einem Punkt eine Szene zeigen wollten, in der sie einen Typen küsst. Man sagte uns daraufhin ‚ihr könnt keinen Kerl dazu zwingen, im Spiel einen anderen Kerl zu küssen, das wird sich zu komisch anfühlen'“.

 

Dieser Standpunkt ist insbesondere deshalb kritisch zu sehen, weil ungewöhnliche Identifikationsfiguren in digitalen Spielen keineswegs eine Seltenheit sind. Während man jedoch selbstverständlich annimmt, dass die Konsument_innen blaue Igel, gigantische Orks oder abstrakte Formen als Avatare akzeptieren, wird die Grenze des Zumutbaren immer wieder dort gesetzt, wo es Geschlechterwechsel zu vollziehen gilt. Dabei könnten digitale Spiele gezielt dazu beitragen, Vorurteile und Unbehagen gegenüber anderen Geschlechteridentitäten abzubauen. Titel wie „Mainichi“, in dem Entwicklerin Mattie Brice einen Auszug ihres Alltags als transsexuelle Frau zeigt, bergen die Chance in sich, durch temporäre Identifikationsprozesse Respekt und Empathie gegenüber anderen Menschen zu fördern. Nun gilt es, dieses Potenzial weiter auszuschöpfen.

 

In diesem Artikel findet der sogenannte „Gender Gap“ als inklusivere Alternative Anwendung, um formal Raum für alle Geschlechteridentitäten zu schaffen.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2017.


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