„Gemeinsames Musizieren im Online-Unterricht ist derzeit noch eine Illusion“
Musikschulunterricht zwischen Präsenz und Distanz
Kann gemeinsames Musizieren online überhaupt gelingen? Matthias Pannes, Bundesgeschäftsführer des Verbands deutscher Musikschulen, gibt Theresa Brüheim Antworten auf diese Frage und mehr.
Theresa Brüheim: Herr Pannes, wie arbeiten Musikschulen aktuell – analog, digital, in Kombination?
Matthias Pannes: Musikschulen haben den Betrieb im Präsenzunterricht – in Form von Einzelunterricht und Partnerunterricht – wieder aufgenommen. Die Ensembleangebote, ein wesentlicher Kern der Musikschularbeit, sind nach wie vor beeinträchtigt; ebenso die Angebote in der elementaren Musikpädagogik, wie z. B. die Früherziehung. Gerade die Kooperationen mit allgemeinbildenden Schulen und Kitas sind noch stark eingeschränkt, da diese in Abhängigkeit der Hygienekonzepte der einzelnen Länder und auch der örtlichen Genehmigungen der Gesundheitsämter stehen. Es ist eine sehr volatile Situation in einem Bereich, der sehr viele Kinder und Jugendliche durch breite Angebote umfasst. Das gilt es in den nächsten Monaten Zug um Zug zu verbessern. Die Bundesliga will jetzt mit 20 Prozent Fans wieder anfangen. Auch wir müssen weiter an einem Stufenmodell arbeiten. Außerdem ist Überzeugungsarbeit gegenüber den Schulen zu leisten, sodass unsere Musikschulangebote wieder mehr Raum greifen können.
Mittlerweile gibt es verschiedenste Ansätze und Plattformen zum Online-Musizieren, aber auch zur kollaborativen Musikproduktion. Inwieweit können die Musikschulen diese Angebote schon nutzen?
Teils, teils. Es gibt eine ganze Reihe digitaler Vermittlungs-, Kommunikations- und Musiziermöglichkeiten. Schon während des Lockdowns haben sich digitale Unterrichts- bzw. Kommunikationsformen für den Unterricht etabliert. Mittlerweile werden hybride Unterrichtsformen, d. h. eine Mischung aus Präsenz- und Digitalunterricht, praktiziert. Dieses Feld befindet sich in der Entwicklung.
Allerdings ist das gemeinschaftliche Musizieren im Distanzunterricht noch eine Illusion: Denken Sie an Bands, Orchester, Kammermusikgruppen etc. – all diese Formate schränkt die Latenzproblematik ein, sodass durch die Zeitverzögerung der digitalen Übertragung kaum gemeinschaftliches Musizieren möglich ist. Das wird sich mit der Zeit im Rahmen der technischen Möglichkeiten verbessern. Aktuell stoßen wir hier aber an Grenzen, die auch durch die Internetgeschwindigkeiten im ländlichen Raum oder in bestimmten Haushalten definiert werden. Inwieweit hier eine soziale Konnexion zwischen Internetzugang bzw. Bandbreite und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe besteht – das vermag ich derzeit nicht zu beurteilen.
Rein technisch sind die Downloadraten z. B. auch bei mobiler Datennutzung schnell, aber die Uploadraten reduziert. Insofern gibt es noch eine Schieflage im Unterrichtsgeschehen, wie schnell, wie sicher und in welcher Klangqualität Distanzunterricht möglich ist.
Die Technik ist Voraussetzung. Aber wie kann auch die inhaltliche Vermittlung beim Musikunterricht auf Distanz gelingen?
Zunächst mal ist das Unterrichtsgeschehen ein dialogisches. Gute Pädagogik ist immer auf Augenhöhe mit individueller didaktischer Reduktion. Die Kommunikation zwischen Schüler und Lehrer sollte grundlegend partizipativ angelegt sein.
D. h. eine Gesprächssituation im Musikschulunterricht ist auch mittels der digitalen Konferenztechnik gängig und praktikabel. Gut möglich ist auch, weitergehende Information zur Musik online zu teilen.
Inwiefern Tutorials künftig eine stärkere Rolle spielen, lässt sich noch nicht abschließend bewerten.
In der Regel geht die Lehrkraft auch im digitalen Distanzunterricht auf die konkreten Bedürfnisse und individuellen Ziele von Schülerinnen und Schülern ein. Ein Tutorial ist einfach vorgefertigt, es lässt kein Nachfragen und keinen Dialog zu. Hier kommt noch mal der besondere Wert von persönlichem Unterricht – digital und analog – zum Ausdruck. Durch die Latenzprobleme sind allerdings online der musikalische Dialog bzw. das musikalische Miteinander – das Vor- und Nachspielen oder das Spiel der zweiten Stimme durch die Musikschullehrkraft – stark beeinträchtigt.
Gibt es bereits Erhebungen, wie sich die Schülerzahlen an den Musikschulen in der Coronakrise entwickelt haben?
Nein, Erhebungen gibt es nicht. Aber basierend auf der Beratung von Musikschulen gibt es einzelne Fallbeispiele. Der Großteil der Schülerinnen und Schüler nimmt das Angebot weiter wahr. Während des Lockdowns wurde in sehr vielen Musikschulen ein digitales Ersatzangebot etabliert – das vom digitalen Unterricht zu Unterrichtsvideos reichte. Wir haben sehr schnell reagiert. Das war auch wichtig, denn gerade in dieser Zeit haben die Musikschulen den Kontakt zu Schülerinnen und Schülern gehalten, deren Tag durch die Schließung der Schulen und fehlendem Freizeitangebot weitgehend unstrukturiert war. Da haben wir eine gute Bindungswirkung erzielt.
Natürlich ist die soziale Situation in den Haushalten unterschiedlich. Es gibt vielfach Versuche zu helfen: über Benefizveranstaltungen, Fördervereine, Stipendien oder Sozialermäßigungen für Kinder und Jugendliche, deren Eltern nicht in der Lage sind, angesichts der Entwicklung die Unterrichtsgebührenzahlung weiter aufrechtzuerhalten.
Sozialermäßigungen sind prinzipiell ein struktureller Bestandteil der Arbeit öffentlicher Musikschulen. Jede Musikschule hat Formen von Sozialermäßigungen, die im kommunalen Haushalt aufgefangen werden. Bei einem Drittel unserer Musikschulen, die in anderen Trägerformen sind, wie z. B. ein eingetragener Verein, ist es schwieriger. Aber auch da sind über die Jahre Mechanismen eingezogen, um Belastungen, wenn nicht ganz aufzufangen, so doch abzumildern.
Konkrete Zahlen wird es erst im nächsten Jahr geben, aber auch die können die mittelfristige Wirkung noch nicht vollständig abbilden.
Mit Sorge sehen wir die Entwicklungen im Bereich der vorschulischen Angebote, d. h. in der elementaren Musikpädagogik und Früherziehung. Diese findet ja vielfach in Kooperation mit Kindertagesstätten statt. Sollte das Angebot der Erstbegegnung dauerhaft eingeschränkt werden oder wegbrechen, wird auch ein späterer Zugang zur Musikschule erschwert. Das Entwickeln des Interesses für ein Instrument, für eine musikalische Betätigung in der Musikschule wird in der elementaren Musikpädagogik im Vorschulalter geweckt bzw. gefördert. Fällt dies weg, kommt automatisch ein späterer oder reduzierter Einstieg zustande.
Mittelfristig wird besonders die Ensemblearbeit durch die Belastungen der Coronakrise eingeschränkt. Damit Freude an der Ensemblearbeit und ein Mehrwert in einer musikalischen Bildungsbiografie entstehen, ist eine langfristige individuelle Begleitung von Schülerinnen und Schülern erforderlich.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.
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