Johann Hinrich Claussen - 30. September 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Digitalisierung & Kultur

Die Wiederentdeckung des Nahen


Analoger Kunstgenuss in der digitalen Welt

Achtung, ich bin in einem Konzert gewesen! An einem echten Ort, mit richtigen Menschen vor und neben mir, mit wirklichen Instrumenten aus Holz und Metall. Früher wäre das nicht der Rede wert gewesen. Es war auch nur ein Hauskonzert auf der anderen Straßenseite, mit einem Streichquartett, im Wohnzimmer, vor einem Dutzend Freunde und Nachbarn im Esszimmer und auf der angrenzenden Terrasse an der frischen Luft. Doch dieses „Nur“ ist heute ein bedeutsames „Immerhin“, ein trotziges „Dennoch“, ein Lebenszeichen analoger Lebenskunst in Zeiten pandemiebedingter Verflüchtigung ins Digitale.

 

Die Musikerinnen und Musiker gehören einem freien Orchester an, dem ich seit Langem verbunden bin. Als auch die Hamburger Camerata im Frühjahr erleben musste, dass alle Auftrittsmöglichkeiten gestrichen wurden, habe ich sie ein wenig darin unterstützt, Alternativen zu finden: Gartenkonzerte in Altenheimen, Wohnstiften und Stiftungen. Das waren schöne ästhetisch-diakonische Ereignisse, die beiden halfen: den isolierten Bewohnern und den beschäftigungslosen Künstlern. Viel war dies nicht, aber doch etwas. In diesen Zeiten lernt man neu, dass wenig mehr ist als nichts.

 

Nun also dieses Hauskonzert, eine Generalprobe für ein größeres Konzert zugunsten von Fridays for Future. Es war anders als früher und doch, wie es sein soll. Ich beendete zu Hause die Arbeit, fuhr den PC herunter, zog mir ein ordentliches Jackett an, verabschiedete mich, ging los, nur über die Straße und doch an einen anderen Ort, grüßte nach links und rechts, nahm Platz, sah und hörte, wie zwei Frauen und zwei Männer miteinander musizierten: das begeisternde Stück eines baltischen Komponisten, von dem ich noch nie gehört hatte, und dann drei Stücke von Haydn, von dem ich immer gedacht hatte, er sei langweilig – jetzt wurde ich eines Besseren belehrt. Ich hörte zu, sah zu, schloss mal die Augen, meine Gedanken schweiften ab und kehrten zurück. Einmal rief ein Mann aus einem hohen Fenster des Nachbarhauses: „Das ist zu laut!“ Dann war er wieder leise. Zwischen den Stücken las eine junge Frau Passagen aus Reden von Greta Thunberg. Das öffnete einen noch weiteren Assoziationsraum. Als das Konzert zu Ende war, klatschten wir so heftig, dass wir unsere Handinnenflächen spürten. Das Ensemble verneigte sich vor uns. Wir sprachen dann über das gemeinsam Erlebte, was uns gefallen hatte, wie wir das alles vermisst hatten. Einer sagte: „So war das früher bei Schubert auch, Konzerte zu Hause, mit offenen Fenstern, die Leute auf der Straße blieben stehen und hörten zu.“

 

Zurück zu Schubert also? Was ich mit dieser kleinen Phänomenologie eines Konzertbesuchs in Corona-Zeiten sagen möchte, ist einfach nur dies: Die beschleunigte Digitalisierung in allen Ehren, sie mag vielen Künstlern einen Ersatz oder gar neue Entfaltungsräume, bisher unbekannte Reichweiten und Verknüpfungen bieten, aber das Leben der Kunst, das Spielen, Darstellen sowie das Betrachten, Zuhören und Genießen kommt von seiner ursprünglichen Analogizität nie los, sollte es auch nicht. Deshalb ist es so notwendig, dass mehr Konzerte, Theater- und Opernaufführungen wieder möglich werden – und dass die Menschen auch wieder hingehen. Damit Menschen Kunst gemeinsam erleben können und damit die Beteiligten dabei ihren Lebensunterhalt verdienen können.

 

Eins noch: Es verbietet sich, allzu flink Krisen zu Chancen zu erklären. Aber in all dem Elend kann man auch nach Inspirationen suchen. Wichtig ist für mich die dringend notwendige Wiederentdeckung des Nahen. Wenn die großen Stars nicht mehr reisen, sollte man die örtlichen Orchester wiederentdecken, neugierig auf die Solisten oder Ensembles in der Nachbarschaft werden. So sollte es auch in der Kunst sein: Wenn es keine Blockbuster-Ausstellungen gibt, sollte man die Sammlung des örtlichen Museums besuchen, die viel Unbekanntes beherbergt, oder die Galerien in Fahrradnähe mit ihren ausgesuchten Schauen. Was ich hier über die Kunst in Corona-Zeiten zwischen „digital“ und „analog“ geschrieben habe, lässt sich zum Großteil auf die Religionskultur übertragen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.


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