Daheim in der Fremde
Schriftsteller im Exil – Bürger beider Staaten?
„Was habe ich hier zu suchen/ In diesem Land/ Dahin ich gekommen bin/ Aus freien Stücken/ Mit grünen Träumen um die Stirn“
So beginnt Adel Karasholis Gedicht „Daheim in der Fremde“, das er nach seiner Flucht aus Syrien 1959 in Leipzig schreibt. Von Beginn an spürt er einen Riss, der Reibungsfläche ist, den er aushalten möchte. Da kommen zwei Erfahrungsbereiche zu Wort. „Meine zwei Länder und ich/ Wir sind vermählt/ Bis daß der Tod uns scheidet…“.
22 Jahre später geht ein Leipziger Schriftsteller einen nur scheinbar leichteren, anderen Weg nach Deutschland-West. Hinter ihm liegen sieben Jahre Zuchthaus in Bautzen und nicht enden wollende Bespitzelungen.
Am 20. März 1981 verlässt Erich Loest Leipzig, nicht wissend, ob und wann er die Stadt wiedersehen wird. In einem Essay für die Süddeutsche Zeitung, der den Untertitel „Besuch bei den Nordlichtern“ trägt, fragt er den aus der DDR hinausgedrängten Schriftsteller Günter Kunert: „Hast Du Heimweh, Günter?“ Und er selbst bekennt: „Heimweh – da sage ich ihm, daß es in mir manchmal brennt, beißt, zwackt. Mittweida, Leipzig, Verwandte. Eine Ausstellung in der Galerie am Sachsenplatz, ich bin nicht dabei. Am Völkerschlachtdenkmal, lese ich, hat’s die Stufen unterspült, ich möchte mal wieder von oben über die Stadt schauen. Ihr lieben Freunde dort, wie geht es euch wirklich?“
Fühlte er sich fremd im westlichen Teil seines Landes? Leser in der Bundesrepublik kennen ihn kaum und verhalten sich abwartend. Das Interesse an den Verhältnissen jenseits der Mauer ist schwach.
Umso mehr freut es Erich Loest, auf generell positive Beurteilung durch die Literaturkritik seiner in der DDR verhinderten Bücher zu stoßen. Loest ist nun der Mann mit den zwei Pässen, einem aus der DDR, einem aus der Bundesrepublik – „Bürger beider Staaten“, so nennt er sich beklommen, halb ironisch. Loest arbeitet und kämpft: Reiseberichte, Erzählungen. Er sucht die Begegnung mit Kollegen, möchte, dass die Kontakte zwischen den Schriftstellern aus der Bundesrepublik und der DDR nicht abreißen, aber auch Gespräche der Schriftsteller aus der DDR untereinander hält er für dringend notwendig. Fast alle Weggegangenen fühlen sich heimatlos. Jeder Einzelne von ihnen war von Konflikten und innerer Zerrissenheit gezeichnet. Darzustellen, vor welch menschlichen wie künstlerischen Problemen die aus der DDR Vertriebenen, mit Lang- oder Kurzzeitvisa ausgereisten, aus Gefängnissen freigekauften oder „freiwillig“ übergesiedelten Schriftsteller im westlichen Deutschland stehen, ist Erich Loests vorrangiges Anliegen, intensiv unterstützt von Wolf Biermann.
Die sprachlichen Zwischentöne, der Lebensstil der Menschen, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Spannungen im Westen seien fremd für sie und verwirrend. Man sehe zwar interessante Themen, könne sie aber nicht behandeln, ohne ins Klischee abzurutschen, erklären die Autoren aus der DDR den oft naiv fragenden Zuhörern. Deutlich spürbar ist der tiefe Graben zwischen den Illusionen westlicher Kollegen und den bitteren, ernüchternden Erfahrungen aus dem Osten. Fast alle haben DDR-Gefängnisse von innen kennen- gelernt.
Nach dem Fall der Mauer, in den frühen 1990er Jahren kommt Erich Loest zurück nach Leipzig. Ausbruch aus innerer Emigration? Nicht nur „seine“ Stadt ist angefüllt mit Ost-West-Auseinandersetzungen, bei denen die Weggegangenen und Hiergebliebenen sich gegenseitig erklären. Da ist der kritische Blick von außen oft unbequem. Erich Loest hat das Gefühl neuer Kräfte. Er ist unentwegt gefragter Gesprächspartner in politischen Diskussionen, auf literarischen Symposien, Lesungen und kulturpolitischen Foren, wird nicht müde, energisch seinen Standpunkt zu vertreten. Auch außer sich ist er bei sich, ist er wieder in „seiner“ Stadt.
Am 22. Februar 1996 verleiht der Leipziger Stadtrat im Festsaal des Alten Rathauses ihm das Ehrenbürgerrecht.
Rückblickend lässt er in seiner Dankesrede seine vergangenen Jahre und die der Stadt Revue passieren: „Dreimal bin ich nach Leipzig gekommen, 1948 aus meiner Geburtsstadt Mittweida, 1964 aus dem Osten (Anm. d. A.: aus dem Zuchthaus Bautzen), 1989 aus dem Westen. 1948 trugst Du eine verschlissene Wattejacke, in Deiner Mütze aus Löwenfell hatten die braunen Motten genistet. 1964 kamst du obenherum ganz proper daher, aber Deine Stiefelchen hatten Löcher. Ich fragte: Geht’s aufwärts mit uns oder pleißeabwärts? Du zucktest die Schultern.“
An die Freunde und Kollegen erinnert er, an Gespräche und Auseinandersetzungen, an politische Feinde und an die unsäglichen Spitzeleien der Staatssicherheit. Wehmut durchstreift seine Rede, aber auch Zorn: „Vom Rheine her klagte ich über Deutschlandfunkwellen in manchem Beitrag mein Leid; als ich endlich wiederkehrte, kamst Du mir, liebe Lipsia, zerzaust und abgemagert vor. Damals saß ich mit Dir lange auf einer Bank am Völkerschlachtdenkmal, und wir fragten uns, ob denn Leipzig noch zu retten sei.“
Vier Jahre nach der Ausreise Erich Loests aus der DDR, verlässt 1985 der 15 Jahre jüngere Schriftsteller Wolfgang Hilbig mit einem Reisevisum das ummauerte Land. Dem in der sächsischen Braunkohlelandschaft Verwurzelten hängen die in der DDR gelebten 43 Jahre wie die lehmige Erde der Tagebauränder an den Füßen. Das Leben im westlichen Deutschland bleibt unwirklich für ihn trotz wichtiger Bücher und schriftstellerischer Erfolge – ein jahrelanger bunter Urlaub, nicht mehr. Heimat, der Begriff taugt nicht für diese Zeit. 1987 erscheint bei S. Fischer die Erzählung „Die Weiber“. In ihr findet er ein großartiges Bild für seine Verlustängste: Einem Ich ist die Welt zerfallen. Es beginnt zu halluzinieren, verliert seine Arbeit und gerät an den Rand seiner Existenz. Für diesen Mann sind „sämtliche Weiber aus der Stadt verschwunden“. Erst am Ende des Buches, nach einer verzweifelten Suche, schreibt Wolfgang Hilbig: „Ich wusste nun, wo sie zu finden waren, ich hatte sie wiedergesehen und in meinem Herzen bewahrt, ich konnte auf sie warten.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.
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