Gabriele Schulz - 28. Januar 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kulturporträt Israel

Literaturreise


Israel: Persönliche Lesetipps von Appelfeldt bis Yedlin

Aharon Appelfeld, geboren 1932 in Jadowa (Bukowina), gestorben 2018 in Tel Aviv gehört der älteren Generation israelischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller an. In „Meine Eltern“ beschreibt er einen Sommer am Fluss Pruth im Sommer 1938. Das Buch ist aus der Perspektive des zehnjährigen Jungen Erwin geschrieben, der die Freuden von Sommerferien, das Baden im Fluss, die Zuwendung der Eltern erzählt und der zugleich die anstehende Verfolgung durchscheinen lässt. Einige Sommergäste reisen früher ab, andere sind ängstlich und fürchten die Bedrohung aus dem Westen. Ein Buch, das durch eine sehr poetische Sprache besticht und eine vernichtete Welt beschreibt. In „Geschichte eines Lebens“, übersetzt von Anne Birkenhauer, beschreibt Appelfeld einen Ausschnitt seines Lebens. Die Ermordung seiner Mutter, das Leben im Ghetto, sein Entkommen bei einem Todesmarsch. Wie er als Kind im Wald überlebt und sich schließlich nach Palästina durchschlägt. Ein Lebenszeugnis.

 

Lizzie Doron, geboren 1953 in Tel Aviv, zuletzt erschien von ihr auf Deutsch „Was wäre wenn“, übersetzt von Markus Lemke. Die Ich-Erzählerin wird in ein Hospiz gerufen. Ein Jugendfreund, der nur noch kurze Zeit zu leben hat, bittet sie um einen letzten Besuch. Der Roman changiert zwischen der Erinnerung an die gemeinsame Kindheit in einem Stadtviertel in Tel Aviv in dem Holocaust-Überlebende mit ihren Familien leben, den Anforderungen an deren Kinder und der Reflektion der Ich-Erzählerin über die Vergangenheit und ihr jetziges Leben. Ein sehr berührendes Buch, das thematisch an ihre Romane „Ruhige Zeiten“, „Der Anfang von etwas Schönem“, „Das Schweigen meiner Mutter“ oder „Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen“ anknüpft und das Sujet verdichtet.

 

Assaf Gavron, geboren 1968, im Mittelpunkt zweier Romane steht Eitan Einoch. In „Ein schönes Attentat“, übersetzt von Barbara Linner, wird aus zwei Ich-Perspektiven erzählt, einmal von Eitan, einem erfolgreichen IT-Unternehmer und einmal von Fahmi, einem Palästinenser, der mehrere Attentate auf Eitan verübt. Im Buch prallen die Welten und Konflikte der Menschen, die in Jerusalem leben, aufeinander. Deutlich wird, wie beide Seiten deformiert werden. In „Achtzehn Hiebe“ ist Eitan Einach inzwischen Taxifahrer, geschieden und darf seine Tochter nur ab und zu sehen. Eine Kundin fährt er zum Friedhof, hieraus entspinnt sich eine Geschichte zum Leben und Lieben von Briten und Juden in Palästina vor der Staatsgründung.

 

David Grossman, geboren 1954, sein Meisterwerk ist für mich „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. In diesem Roman verdichtet Grossman die Sorge einer Mutter vor dem möglichen Tod ihres Sohnes im Libanon-Krieg und ihre eigene (Liebes-)Geschichte im Sechstagekrieg. Krieg, Amour fou, Verletzungen, Suche nach Normalität, Sorge werden zu einem leidenschaftlichen Roman zusammengeführt. Die einmalige Landschaft Israels von der Wüste bis zu den Bergen Galiläas bilden die Kulisse dieses eindrücklichen Romans.

 

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982: Eine Lüge ist das Handlungsmovens der Romane von Gundar-Goshen. Egal, ob es in „Löwen wecken“ um die Fahrerflucht von Etan Grien geht, der einen Flüchtling überfahren hat und nun von dessen Frau erpresst wird oder um die Eisverkäuferin Nuphar Schalev in „Lügnerin“, die vorgibt, sexuell belästigt worden zu sein oder um das Lügengespinst in das die Familie von Lilach Schuster in „Wo der Wolf lauert“ verwoben ist. Eine Lüge ist es schließlich auch, dass Jakob Markowitz sich nach der Hochzeit mit Bella und der Ankunft in Israel scheiden lassen würde, in „Eine Nacht, Markowitz“. Die Protagonisten in den Romanen verstricken sich in ihren Lügen, kommen nicht mehr davon los und rutschen immer tiefer hinein. Die Leser werden gefesselt und durch den Plot erlöst.

 

Sayed Kashua, geboren 1945 setzt sich in seinen Romanen mit dem Leben arabischer Israelis auseinander. „Tanzende Araber“, „Zweite Person Singular“ oder „Eingeboren“, es geht jeweils um arabisch-israelische Männer, um die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft. Sayed Kashua schreibt in einem fast lakonischen, manchmal ironischen Stil, die Beschreibung des Verlustes an Heimat und der Suche nach Identität gehen unter die Haut.

 

Etgar Keret, geboren 1967, schreibt grandiose Kurzgeschichten, manchmal kaum eine Seite lang, aber auf den Punkt, berührend, witzig, nachdenklich. In den Sammlungen „Plötzlich klopft es an der Tür“ und „Die sieben guten Jahren“ dominieren die skurrilen, zärtlichen Geschichten. In „Tu’s nicht“ sind die Kurzgeschichten existenzieller, die Protagonisten älter, hadern mehr mit dem Leben, das Lachen bleibt öfter im Halse stecken und doch finden fast alle Geschichten eine unerwartete Wendung.

 

Mira Magén, geboren Anfang der 1950er Jahre, schreibt über Frauen, die in vermeintlich gesicherten Verhältnissen leben. Thema ist deren Begehren, das unterdrückt, und schließlich sich seinen Weg bahnt. In „Klopf nicht an diese Wand“ geht es um die unerfüllte Liebe von Jisca, die in einem orthodoxen Moschaw im Norden Israels lebt und sich nach Elischa sehnt, in den sie sich bereits als Teenager verliebt hat. Jisca bricht aus ihrer Welt aus. Ihre geordnete Welt gefährdet ebenso Moria, Inhaberin eines Maklerbüros und glücklich verheiratete Frau in „Als ihre Engel schliefen“. In ihren Mittagspausen hört sie einen Straßenmusiker, zu dem sie sich hingezogen fühlt, der schließlich eine Wohnung bei ihr mietet und mit dem sie ein Verhältnis beginnt. Magéns große Stärke liegt darin, die Suche nach Begehren und sexueller Erfüllung als Subtext durch die Romane zu weben.

 

Eshkol Nevo, geboren 1971, zuletzt erschien auf Deutsch „Die Wahrheit ist“. Das Buch ist ein Dialog mit einem Schriftsteller, über sein Leben, seine Arbeit, seine gescheiterte Ehe, seine Familie und die Frage nach Dichtung und Wahrheit. Nevo setzt mit diesen Fragen die Motive seiner vorherigen „Über uns“, „Vier Häuser und eine Sehnsucht“, „Neuland“ sowie die „Die einsamen Liebenden“ fort. Mein Favorit ist „Wir haben noch das ganze Leben“. Im Mittelpunkt stehen vier Freunde, die im Jahr 1998 beim Schauen eines Fußballspiels ihre Wünsche aufschreiben. Die Geschichte spielt vier Jahre später und rückblickend wird erzählt, welche Wünsche in Erfüllung gingen und welche nicht. Es ist ein Roman vom Gelingen und vom Scheitern, vom Loslassen von Träumen und vom Wiedergewinnen dessen, was eigentlich gewollt wurde.

 

Amos Oz, geboren 1939, gestorben 2018, ist neben David Grossman sicherlich einer der bekanntesten israelischen Schriftsteller. Besonders bekannt ist „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“, in der Zeit vor und unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung spielt. Oz setzt sich in seinen Büchern, so auch in „Judas“, „Unter Freunden“ oder auch „Panther im Keller“ mit der Geschichte des Staates Israel auseinander. Dabei sind seine Figuren Helden im klassischen Sinne, d. h. gebrochen, an der Geschichte verzagend und zugleich wachsend.

 

Yishai Sarid, geboren 1965: Seine Geschichten lassen den Atem stocken. In „Limassol“ und in „Siegerin“ geht es jeweils um die Arbeit von israelischen Nachrichtenoffizieren bzw. hochrangigen Militärs und ihren Aufträgen. Die Protagonisten sind körperlich eingeschnürt in das Korsett ihrer Arbeit, sie stehen an der Grenze zwischen Befehlserfüllung und -verweigerung. Die Bücher bestechen durch eine lakonische, karge Sprache. Die inneren Konflikte werden nicht durch viele Adjektive beschrieben, sondern durch die Dichte der Erzählweise und den Plot auf den die Romane unerbittlich zusteuern. Diese Erzählweise wendet Sarid auch in „Monster“ an. Hier steht im Mittelpunkt ein israelischer Historiker, der Guide in Auschwitz ist.

 

Meir Shalev, geboren 1948, setzt sich mit dem Leben russischer Einwanderer in den Moschaw in den fruchtbaren Ebenen Israels auseinander. Sowohl in „Ein russischer Roman“ als auch in „Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger“ oder „Zwei Bärinnen“ geht es um die zweite Einwanderergeneration, ihre harte Aufbauarbeit, ihren Verzicht und Familiengeschichten zwischen Hass und Leidenschaft.

 

Zeruya Shalev, geboren 1959, in ihren Büchern stehen im Mittelpunkt Frauen und die stets komplizierten Beziehungen zu Männern. „Mann und Frau“ oder auch „Für den Rest des Lebens“ haben als Motiv die Unmöglichkeit der Beziehungen, die sich stets körperlich zeigen. Meisterhaft setzt sich Shalev mit dem Thema in „Schmerz“ auseinander. Iris, Opfer eines Terroranschlags, leidet zehn Jahre später noch unter Schmerzen. Sie wendet sich an Eitan, einen bekannten Schmerztherapeuten, der ihre Jugendliebe ist. Die wiederaufflammende Liebe zu Eitan, das Begehren lindern ihren Schmerz, zugleich ist sie erfüllt von Sorge um ihre Tochter, die in Tel Aviv ihre eigenen Wege gehen will. Shalevs Erzählweise ist eindringlich. Wer sich auf ihre Geschichten einlässt, wird in einen Sog gezogen, der nicht loslässt.

Jehoschua Sobol, geboren 1939, spannt in seinem Buch „Der große Wind der Zeit“ den Bogen einer Familiengeschichte über mehrere Generationen, die in den 1930er Jahren in Berlin, in der Zeit der Staatsgründung und im heutigen Israel spielt.

 

Noa Yedlin, geboren 1975, ihr Buch „Leute wie wir“ handelt von einer gutsituierten Familie, die in einem heruntergekommenen Wohnviertel ein Haus kauft und eigentlich gute Nachbarn sein wollen. Sie treffen auf Menschen, für die sie sich vielleicht politisch einsetzen würden, die aber doch so anders leben als sie. Konfrontiert mit einer Familie, die illegal Kampfhunde züchtet, einem Nachbarn, bei dem unklar ist, was hinter seinen stets verschlossenen Türen passiert, einem lockeren Abflussdeckel, aus dem sich Kakerlaken in das neu renovierte Haus ergießen, scheint das Leben immer bedrohlicher. Ein Buch, das unter die Haut geht.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.


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