Sharon Golan - 28. Januar 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kulturporträt Israel

Die weiße Stadt


Auf den Spuren der Bauhaus-Bewegung in Tel Aviv

Begriff „Genius Loci“ stammt aus der römischen Mythologie und wird in der Regel zur Beschreibung der besonderen Atmosphäre oder des „Geistes eines Ortes“ verwendet. Im Fall von Tel Aviv spiegelt sich dieser Geist in dem besonderen Baustil wider, der den Stadtkern, die sogenannte „Weiße Stadt“, die zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde, prägt.

 

Tel Aviv bezeichnet sich gerne als „globale Stadt“, die niemals schläft. Der Reiz von Tel Aviv besteht in dem Kontrast zwischen dem historischen Stadtkern und den Bemühungen, einerseits bestehende Strukturen zu erhalten und andererseits neue Gebäude zu errichten – was zuweilen direkt auf den Dächern der historischen Bauten stattfindet. Während unten auf der Straße die historischen Fassaden entweder in ihrem jetzigen Zustand verharren oder liebevoll restauriert in alter Pracht erstrahlen, erhält die Stadt einige Stockwerke darüber eine komplett neue Ebene. Diese Art der Bebauung ist der von der Stadt präferierte Ansatz, der sich aus einer Reihe unterschiedlicher Zwänge ergibt, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen; es geht darum, bedeutende historische und kulturelle Merkmale der Stadt zu erhalten und gleichzeitig den dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. Dabei versucht die über 100 Jahre alte Stadt, den rasanten Zeitgeist Israels als „Start-up-Nation“ zu berücksichtigen.

 

Tel Aviv verdankt seine Entstehung Einwanderern, die getrieben von dem Wunsch nach „jüdischem Aufbau“ in das damalige Mandatsgebiet Palästina kamen. Viele Juden, die in der fünften Einwanderungswelle in den 1930er Jahren aus hauptsächlich deutschsprachigen Ländern nach Palästina strömten, waren beseelt von dem Traum, sich ein neues Leben in einer besseren Welt aufzubauen.

 

Ihre Vision bestand darin, mit neuartigen Technologien und zeitgenössischem Design eine moderne, futuristische Stadt von morgen aufzubauen. Ihr Ziel war es, Gebäude zu errichten, deren „Form der Funktion“ folgt (Louis H. Sullivan), wo „Weniger mehr“ (Ludwig Mies van der Rohe) und „Ornament ein Verbrechen“ ist (Adolf Loos). Zur physischen Realisierung dieses Traums verschrieben sie sich dem Konzept der „Neuen Sachlichkeit“, womit in Israel der Bauhausstil gemeint ist, und strebten damit eine Art Blankovollmacht an, um die noch leeren Seiten im nächsten Kapitel der jüdischen Geschichte mitten in einer Zeit zu füllen, in der Juden einmal mehr zum Opfer von Antisemitismus wurden.

 

Obwohl die örtliche Architektur von vielen europäischen Baustilen beeinflusst wurde, verwendet man in der Regel den „Bauhaus“-Begriff, um Gebäude in Tel Aviv zu beschreiben. Dieser Terminus wurde zum bedeutenden Slogan und Synonym für den Baustil der Stadt. Wohnungen, die sich mit dem Ruhm der Bauhaus-Bewegung, die für die Realisierung einer gesellschaftlichen Utopie steht, schmücken, kosten als sogenannte „Bauhaus-Apartments“ gleich 25 Prozent mehr.

 

Die Architektur der Stadt ist jedoch viel zu komplex, als dass sie schlichtweg als Bauhaus-Stil bezeichnet werden könnte. Sie ist das Produkt von Protagonisten aus ganz Europa, deren zahlreiche Doktrinen und europäische Vorstellungen von der Moderne das Stadtbild prägen. Tel Aviv steht für ein ureigenes „glokales“ städtebauliches Experiment, das von verschiedensten Einflüssen geprägt und an die klimatischen und kulturellen Bedingungen der ersten hebräischen Großstadt angepasst ist.

 

Wenngleich lediglich fünf Architekten, die an der städtebaulichen Entwicklung von Tel Aviv beteiligt waren, am Bauhaus studierten, war der Einfluss dieser kleinen Gruppe auf den architektonischen Diskurs dennoch immens. Ein gutes Beispiel hierfür ist die 1935 fertiggestellte, kooperative Hod-Wohnsiedlung in der Frishman-Straße: Der Einfluss von Hannes Mayer, dem zweiten Direktor der Bauhaus-Schule, ist hier sowohl am einfachen, schlichten Design als auch an der gemeinschaftlichen Struktur der Gebäude zu erkennen. Bewohnern werden zwar nur kleine Wohnungen zugewiesen, sie haben jedoch Zugang zu großzügig angelegten Gemeinschaftsbereichen, die einen großen Garten in der Mitte der Siedlung sowie Gemeinschaftseinrichtungen wie z. B. einen Kindergarten, eine Waschküche, Geschäfte und einen Speisesaal umfassen. In Einklang mit der sozialistischen Weltsicht der regierenden Elite wurde dieser öffentliche Gemeinschaftsbereich als Ergänzung zu den relativ kleinen Behausungen mit dem Ziel geschaffen, die neue hebräische Gesellschaft zu einem einzigen homogenen Ganzen zusammenzuschweißen.

 

Dies entsprach unmittelbar den Lehren von Mayer, dem „sozialistischen“ Direktor der Bauhaus-Schule, der Slogans wie „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ kreierte und seine Studenten dazu anhielt, sich hauptsächlich auf soziale Designaspekte zu konzentrieren. Einer von Mayers Studenten, Arieh Sharon, dem das Bauhausdiplom Nr. 6 verliehen wurde, sollte später Israels bedeutendster Bauhausarchitekt werden.

 

Es ist gut vorstellbar, dass Sharon, nachdem er vom Kibbuz Gan Shmuel, wo er bereits im Bereich Planung und Bau gearbeitet hatte, an das Bauhaus kam, sich sofort sehr gut mit Mayer, seinem Lehrer, verstand und dass sie gemeinsam versuchten, ihre sozialistischen Ideale in architektonische Formen zu gießen.

 

1949 wurde Sharon von Israels erstem Premierminister, David Ben Gurion, damit beauftragt, die Leitung des nationalen Teams zur Ausarbeitung des ersten Masterplans für den jungen Staat zu übernehmen. Dieser Plan, in dem der Standort für neue Städte und die Grundlagen regionaler Bebauung zur Verteilung der vielen Neuankömmlinge festlegt waren, wurde 1951 unter dem Namen „Physical Planning in Israel“, veröffentlicht. Er enthielt Details zur Lage neuer Industriegebiete und landwirtschaftlicher Flächen sowie Anweisungen zur Schaffung eines allgemeinen Infrastruktursystems, von Nationalparks und Naturschutzgebieten.

 

So hat ein Bauhaus-Student nicht nur Wohngebäude in Tel Aviv entworfen, sondern letztlich auch den strategischen Masterplan für das ganze Land Israel entwickelt.

 

Zwischen 1933 und 1934 kamen ca. 60 Architekten nach Palästina, unter ihnen auch deutsche Stararchitekten wie Erich Mendelsohn, Adolf Rading, Julius Posener, Leo Adler, Oskar Kaufmann und viele andere. Die meisten dieser Architekten, die nach Palästina auswandern wollten, taten dies nicht etwa aus tiefster zionistischer Überzeugung, sondern weil sie die Aufgabe reizte, in dem unterentwickelten Land als Architekt wirken und vor Ort arbeiten zu können.

 

Bei der Entwicklung von Israels Baustil ging es nie einfach darum, europäisches Know-how in Israel zu kopieren. Es war vielmehr das Ziel, mit den Mitteln der Funktionslehre der Moderne ein einzigartiges Lokalkolorit zu kreieren, welches die Bedürfnisse der neu entstehenden Nation widerspiegeln sollte.

 

Das vielleicht herausragendste Merkmal des Baustils in Israel ist das Verhältnis zwischen Gebäuden und Straßen, das sich aus dem modernistischen Bebauungsansatz des Gartenstadtplans ergibt. Die Bauten ähneln in gewisser Weise separat platzierten Monolithen, die auf allen vier Seiten genügend Platz für Begrünung und damit Raum für die Realisierung des Gartenstadtplans lassen. Die Gebäude stehen im beständigen Dialog mit ihrer Umgebung, was zu einer kontinuierlichen sozialen Interaktion zwischen ihren Bewohnern und Passanten führt. Die auf Pfeilern errichteten Pilotis-Häuser – nach einer Idee von Le Corbusier – bieten einen allmählichen Übergang vom öffentlichen Raum mit üppig bepflanzten Gärten zu halb-öffentlichen Bereichen und schaffen dadurch an heißen Sommertagen ein angenehmes Mikroklima.

 

Balkone in verschiedensten Ausführungen sind ein weiteres dominierendes Merkmal von Tel Avivs Stadtlandschaft. Obwohl dem Balkon in der Regel eine rein funktionale Rolle zukommt, könnte man im Fall von Tel Aviv auch von einer dekorativen Funktion sprechen. Daher unterscheiden sich die Fassaden der Gebäude vor Ort stark von denen anderer modernistischer Bauten in Mitteleuropa mit kleinen bzw. versteckten Hinterhofbalkonen. In Israel hatte der Balkon zudem noch eine dritte soziale Funktion: Tel Avivs Einwohner benutzten ihren Balkon zur sozialen Interaktion. Die Kontakte zwischen Bewohnern und Passanten auf der Straße schufen eine lebendige Straßenatmosphäre; die Balkone fungierten zudem als Hauptkommunikationsmittel zwischen Nachbarn. Da sie in der Regel als eine Erweiterung des Wohnzimmers im Außenbereich fungieren, bieten sie Schatten und sorgen für Frischluft.

 

2003 verlieh die UNESCO der Weißen Stadt in Tel Aviv dank ihrer herausragenden kulturellen Bedeutung und Verkörperung verschiedenster Trends der Moderne in Architektur und Stadtplanung zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Status als Weltkulturerbe. Sie gilt als das größte zusammenhängende, im frühen Internationalen Stil erbaute Stadtgebiet. Insgesamt wurden in Tel Aviv 3.700 Gebäude im Internationalen Stil errichtet; für tausend Gebäude ist eine Restaurierung geplant. 180 Bauten stehen unter strengstem Denkmalschutz.

 

Die Anerkennung durch die UNESCO führte dazu, dass ein Sanierungsplan zur Restaurierung der städtischen Bausubstanz umgesetzt wurde. Ausgangspunkt war die Notwendigkeit, Wohnraum für die wachsende Stadt zu schaffen, sowie der Wunsch, den historischen Stadtkern zu erhalten. Die meisten Gebäude in der Stadt befinden sich in Privatbesitz. Dank der neuen Sanierungsvorschriften können sich Bewohner nun die relativ hohen Sanierungskosten leisten, da ihnen zusätzliche Baurechte für Dachaufbauten auf unter Denkmalschmutz stehenden Gebäuden eingeräumt werden; der Erlös aus diesen Aufstockungen deckt die Sanierungskosten.

 

Eigentümer sind nicht nur dazu verpflichtet, bei der Restaurierung strikte Sanierungsregeln einzuhalten, sondern auch die Gebäude erdbebensicherer zu machen und Schutzbunker zu installieren. Da Tel Aviv sich im syro-afrikanischen Graben befindet, könnten bei schweren Erdbeben viele Gebäude zerstört werden. Zusätzliche Baugenehmigungen werden nur erteilt, wenn bestehende Bausubstanz verstärkt, Präventivmaßnahmen getroffen und die Gebäude entsprechend geschützt werden.

 

Ein weiterer Grund für die Konsolidierung der Bausubstanz ist die ständige Bedrohung durch Raketenangriffe. Zum Schutz der Zivilbevölkerung erhält jedes einzelne Apartment einen zusätzlichen verstärkten Schutzraum, der sich idealerweise in Form eines Schachts im hinteren Teil des Gebäudes befindet und von vorne nicht sichtbar ist. Die zwei größten Herausforderungen bei der Gebäudesanierung sind Naturkatastrophen und ein Kulturerbe-Bewusstsein, das weiterhin sensibilisiert werden muss.

Einige Sanierungspuristen sind zweifellos erstaunt über dieses Verfahren der „Aufstockung“. Auf der anderen Seite widersteht die Stadt Tel Aviv hartnäckig dem enormen Druck großer Immobilienkonzerne, indem sie Hochhäuser in die Bezirke außerhalb der denkmalgeschützten Zone verbannt. Sie zahlt einen hohen Preis für ihre Bemühungen zur Erhaltung des historischen Stadtkerns. Investoren verklagen die Stadt und verlangen 2,5 Milliarden US-Dollar als Entschädigung für die Wertminderung bei Immobilien.

 

Tel Aviv muss auf die Bedürfnisse des heutigen Israel, des Landes mit der am schnellsten wachsenden Bevölkerung in der OECD, Rücksicht nehmen. Auch wenn der neue Bebauungs-Masterplan für Tel Aviv nicht alle Probleme löst, so gibt er dennoch sorgfältig abgewogene Antworten auf die Zwänge und Bedürfnisse der Welt von heute.

 

Israel ist ein sehr junges Land, das noch immer um sein Überleben kämpft. Vielen scheint die Bewahrung seines Erbes, insbesondere des Kulturerbes der Moderne – das nicht unbedingt jedermanns Geschmack ist – reiner Luxus, insbesondere in Anbetracht der existenziellen Bedrohungen, denen das Land ausgesetzt ist.

 

Laut der internationalen Wochenzeitung „The Economist“ ist Tel Aviv mittlerweile die teuerste Stadt weltweit. Das sind alarmierende Nachrichten, die zeigen, dass das geistige und soziale Vermächtnis der Bauhaus-Philosophie infrage gestellt wird, und auf die dunkle Seite des Sanierungsplans der Stadt aufmerksam machen. Das Motto „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ muss wieder Eingang in die Agenda der Stadtplaner finden, um einschneidende Gentrifizierungsprozesse abzumildern.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Renate Lagler-Thompson.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.


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