Richard Deacon - 1. Januar 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Brexit & Kultur

Ode an die Freude


Glaube an und Arbeit für die Zukunft

Da ich gefragt werde, muss ich sagen, dass für mich persönlich – und ich nehme das sehr persönlich – unser drohender Austritt aus der Europäischen Union katastrophal ist, ja sogar traumatisch. Ich wurde 1949 geboren, als Großbritannien und ein großer Teil des übrigen Europas noch in Trümmern lagen. Die harte Arbeit des Wiederaufbaus hatte gerade erst angefangen. Die Bündnisse aus Kriegszeiten waren auseinandergebrochen, und der Kalte Krieg hatte begonnen. Nukleartests der Amerikaner und Sowjets waren in vollem Gange und gipfelten am 1. November 1952 in der Explosion der ersten Wasserstoffbombe auf der Insel Elugelab des Eniwetok-Atolls. Immer katastrophalere Folgen des Kriegsirrsinns zeichneten sich ab. Die brutalen und mörderischen historischen Entwicklungen der europäischen Nationalstaaten in den ersten 50 Jahren des 20. Jahrhunderts versprachen keine Hoffnung für die Zukunft. Und doch bin ich jetzt fast 70 Jahre alt. Auch wenn es Augenblicke des Schreckens und tiefempfundene Ängste gegeben hat, so sind doch die alten schlechten Gewohnheiten nicht zurückgekehrt. Mit Ausnahme des Balkankonflikts Mitte der 1990er Jahre habe ich Zeit meines Lebens keinen Krieg in Europa erlebt. Für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die nachfolgende Europäische Union in ihrer heutigen Form hat es langsame, aber stete Fortschritte darin gegeben, Dinge anders zu machen und sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren, anstatt das Spaltende in den Vordergrund zu rücken. Ich war schon vor dem Erfolgsergebnis des britischen Referendums im Jahre 1975 von dieser Idee überzeugt, engagierte mich mit großer Leidenschaft für eine Abstimmung mit „Ja“ und war hocherfreut über das Ergebnis. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union blieb für Angehörige des rechten Flügels der britischen Tories und des linken Flügels der Labour-Partei eine schwärende Wunde. Aber meist waren die Politikerinnen und Politiker pragmatisch und meine Scheuklappen hinderten mich daran, zu erkennen, dass nicht alle sehen konnten, dass der eingeschlagene Weg richtig war. Hier geht es nicht um Handelserleichterungen, wirtschaftliche Sicherheit oder Ähnliches – so wesentlich Arbeitsplätze und Geld auch sind. Nein, für mich geht es um etwas, das viel tiefgreifender ist – um eine Anreicherung dessen, was wir gemeinsam haben, statt einer Verstärkung dessen, was trennt. Es ist natürlich bemerkenswert, dass die europäische Hymne die „Ode an die Freude“ und keine kriegerische Hymne ist und dass die EU zwar einen Grenzschutz, aber keine Armee hat und trotzdem nicht schwach ist. Diese Art der Politik ist anders, besser – und für mich ist es traumatisch, dass mein Land sich davon abwendet. Ich werde weder die nachlässig-arrogante Missachtung eines leichtfertigen Opportunisten wie David Cameron noch die galligen Äußerungen von Leuten wie Nigel Farage, Boris Johnson oder Michael Gove verzeihen. Und wichtiger noch – meine Kinder und andere in ihrem Alter werden ihnen wohl nicht verzeihen, dass sie ihre Zukunft so drastisch begrenzt haben.

 

Als Künstler habe ich in Museen, Galerien oder anderen öffentlichen Räumen in 17 der gegenwärtig 27 Mitgliedstaaten der EU (ohne Mitgliedschaft Großbritanniens) ausgestellt. Ich habe Auftragsarbeiten in öffentlichen Räumen in Deutschland (3), in den Niederlanden (2), Spanien (2) und Frankreich geschaffen und befinde mich momentan im Anfangsstadium meiner Arbeit an einem Entwurf für einen öffentlichen Raum in Prag in der Tschechischen Republik. Ich hatte bereits Lehrstühle in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland und habe in vielen anderen Mitgliedstaaten in Workshops gelehrt oder Vorlesungen gehalten. Ich bin viel und vollkommen ungehindert gereist, habe wunderbare Orte und Dinge gesehen und unglaublich viele interessante Menschen getroffen – darunter viele Künstlerinnen und Künstler. Ich habe es genossen, die Kommunikation in anderen Sprachen auszuprobieren und mich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Ich wurde von anderen Ländern mit vortrefflicher Großzügigkeit behandelt. All das scheint jetzt gefährdet zu sein – und ich weiß, dass diese Reaktion zu emotional ist und einer Korrektur bedarf. Aber was ist zu tun?

 

Leider glaube ich nicht daran, dass die Durchführung eines weiteren Referendums Zugkraft hat. Sofort wären demagogische Argumente vom „Willen des Volkes“ auf dem Plan, und man liefe Gefahr, die bereits jetzt stark zerrüttete britische Gesellschaft noch weiter zu polarisieren. Das Vereinigte Königreich ist selbst gefährdet, und seltsamerweise gibt gerade das vielleicht etwas Hoffnung. Aus ganz unterschiedlichen Gründen werden weder die Schotten noch die Nordiren, die jeweils mit großer Mehrheit für den Verbleib in der Union gestimmt hatten, einen harten Brexit unterstützen; und deren Empfindungen sitzen tief genug, um die Einheit des Vereinigten Königreichs infrage zu stellen. Paradoxerweise ist dies eine gewisse Garantie dafür, dass es nicht zu einem harten Brexit kommen wird – sprich, dass wir uns nicht vollkommen abwenden werden. Ich denke, wir sind noch nicht am Ende dieser Geschichte angekommen. Ich kann mir eine Zukunft vorstellen, in der sich ein politischer Weg zurück in die Europäische Union öffnet, allerdings nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Also können wir aktuell auf jeden Fall eines tun: die Kontakte auf persönlicher Ebene, im Bildungsbereich, auf institutioneller Ebene und im Geschäftsleben überall und auf jede uns zur Verfügung stehende Weise am Leben erhalten und von uns geknüpfte Verbindungen mit Bestimmtheit aufrechterhalten.

In den letzten 20 Jahren war London einer der spannendsten Orte der Welt, um Kunst zu schaffen, zu zeigen und zu sehen – in Museen, staatlichen und internationalen Galerien, in Räumen, die man sich für die Kunst aneignete, in kleinen Künstlerkooperativen, Kunsthochschulen oder in Ateliers einzelner Kunstschaffender. Einfach fantastisch, welche Vielfalt und Größenordnung, welche Ambitionen und Qualität wir dort sehen konnten. Für mich hält die Stadt dem Vergleich mit dem Paris der späten 1890er und frühen 1900er Jahre oder dem New York der späten 1940er, der 1950er und frühen 1960er Jahre stand. Ich fühle mich auf wunderbare Weise privilegiert, ein Teil davon gewesen zu sein. Viele verschiedene Faktoren – Einzelpersonen, Institutionen, wirtschaftliche Möglichkeiten und ein gesellschaftlicher Wandel haben gemeinsam zu dieser Blütezeit beigetragen und natürlich hält sie nicht an. Wir sollten dankbar für ihre Existenz sein und die Gewinne in die Zukunft hinüberretten. In London haben die überzogene Monetarisierung der Kunstwelt und der rasante Höhenflug des Immobilienmarktes die Situation vermutlich kippen lassen. Das Brexit-Votum erscheint eher symptomatisch statt ursächlich zu sein und spiegelt eine Ablehnung der Globalisierung wider, die deren Wurzeln zu marginalisieren scheint. Dies ist für den Kultursektor ein ebenso wichtiges Thema wie für die verarbeitende Industrie und die Schwerindustrie. Die Vitalität, die insbesondere in London, aber auch in der gesamten britischen Kunstszene zu spüren ist, bedeutet, dass sehr umfassende Netzwerke entstanden sind – individuell, institutionell, kollektiv und kommerziell. Sich dafür einzusetzen, diese Verbindungen zumindest aufrechtzuerhalten und gleichzeitig neue Kontakte zu knüpfen, ist von entscheidender Bedeutung.

 

Ich bin Künstler. Ich bin eigennützig und egoistisch und ich schätze meine Unabhängigkeit. Aber ich verändere mich auch und passe mich an. Momentan ist es für einen jungen Künstler, der in London seinen Hochschulabschluss macht oder in die Stadt zieht, so gut wie unvorstellbar, so wie ich ein verlassenes Fabrikgebäude zu finden und sich dort zusammen mit einigen anderen in mehreren Ateliers kostengünstig zu etablieren. Die inflationäre Entwicklung der Immobilienpreise und die hohen Lebenshaltungskosten haben dies zu einem bloßen Wunschtraum werden lassen. Aber junge Künstler sind widerstandsfähig, ihre Arbeitsweise wird sich ändern und hat sich bereits geändert; und auch wie sie diese großartige Stadt nutzen und sich der Familie der Kunstschaffenden in Europa und auf der ganzen Welt zuwenden, wird sich anpassen und weiterentwickeln. Wir haben bereits viel, worauf wir aufbauen können. Lasst uns an die Zukunft glauben und darauf hinarbeiten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01/2018.


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