Carsten Walbiner - 26. November 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Auswärtige Kultur- & Bildungspolitik (AKBP)

"Wir leben noch"


Das syrische Hochschulwesen im achten Jahr des Krieges

Nur selten ist in der aktuellen Berichterstattung über die Syrienkrise vom Hochschulwesen des Landes die Rede. Dabei kommt den Universitäten für die Gestaltung des zukünftigen Syrien eine große Bedeutung zu. Sie formen die Fach- und Führungskräfte, die vor der Mammutaufgabe stehen, ein teilweise zerstörtes, innerlich tief zerrissenes Land wieder aufbauen zu müssen.

 

Der materielle Schaden, den die höheren Bildungseinrichtungen seit 2011 genommen haben, ist im Vergleich zu anderen Bereichen relativ gering und wird von Regierungsseite auf 17,5 Millionen Dollar geschätzt. Nur eine der sieben staatlichen Universitäten – diejenige im vorübergehend vom IS beherrschten Deir ez-Zor – musste ihren Betrieb für längere Zeit, von 2013 bis 2018, gänzlich einstellen. Auch wurden einige universitäre Zweigniederlassungen sowie vier private Hochschulen im Osten des Landes geschlossen. Die betroffenen Studierenden wurden weitgehend auf die weiterhin funktionstüchtigen Institutionen in den anderen Landesteilen umverteilt. Aktuell gibt es in Syrien sieben staatliche und 22 private Universitäten, an denen nach Angaben des Hochschulministeriums mehr Studierende eingeschrieben sind als vor Ausbruch des Krieges.

 

Allerdings sind die Bedingungen, unter denen diese Einrichtungen operieren, alles andere als gut und von einer anhaltenden Verschlechterung geprägt. Die Zahl der Studierenden hat durch die Binnenflucht an einigen Hochschulen dramatisch zugenommen. Die Klassen sind überfüllt, oft stehen keine Unterrichtsmittel in ausreichender Menge zur Verfügung. Die Ausstattung der Labore – schon vor dem Krieg nicht auf Spitzenniveau – lässt zu wünschen übrig, häufig können keine Materialien oder Ersatzteile beschafft werden. Nämliches trifft auf die Bibliotheken zu, die kaum noch Bücher und Zeitschriften aus dem Ausland bekommen oder die Gebühren für elektronische Nutzungswege aufbringen können.

 

Das zentrale Problem stellt allerdings der Verlust an qualifiziertem Personal dar. Bis 2016 hatte die Damaskus-Universität, die führende Hochschule des Landes, 43 Prozent ihres akademischen Personals verloren; aktuelle Schätzungen gehen für den gesamten Hochschulbereich von einer Verlustquote von etwa 50 Prozent aus. Die Gründe für dieses massive Ausscheiden von Lehrkräften sind vielfältig und reichen von Flucht aufgrund akuter Bedrohung von Leib und Leben bis hin zur Suche nach besser bezahlten Stellen in der Privatwirtschaft. Viele Akademiker haben das Land gänzlich verlassen. Und natürlich handelt es sich meist um die Bestqualifizierten. Adäquater Ersatz kann oft nicht beschafft werden. Das führt dazu, dass Promovenden und sogar Masterstudenten massiv in die Lehrtätigkeit eingebunden werden, was stark zulasten der eigentlich zu erbringenden Leistungen in Forschung und Studium geht. Allerdings ist das Angebot für postgraduale Weiterbildung stark eingeschränkt. Je 1.000 Absolventen grundständiger Studien stehen nur zwölf Plätze in Masterstudiengängen zur Verfügung. Im Bereich der Promotion fehlt es häufig an den nötigen Forschungsmitteln, aber auch an seriöser fachlicher Betreuung. Viele Professoren haben den Anschluss an die Entwicklung in ihren Wissenschaftsdisziplinen verloren. Es fehlt der Zugang zu Literatur und die Möglichkeit, selbst wissenschaftlich aktiv zu werden.

 

Und natürlich sind die Ereignisse der vergangenen Jahre nicht spurlos an Lehrkräften und Studierenden vorübergegangen. Viele haben Traumata erlitten und alle erfüllt die Sorge um das Morgen. „Wir“ – und damit meinte er die Universitäten – „haben überlebt“, konstatierte unlängst ein syrischer Professor auf einer Tagung in Beirut, „und das ist einzig und allein das Verdienst der Professoren und der Studenten“. Dass das Hochschulwesen auch angesichts massiv zurückgegangener staatlicher Unterstützung überhaupt noch funktioniert, gleicht in der Tat einem Wunder und unterscheidet Syrien von anderen Konfliktregionen, in denen das höhere Bildungswesen häufig massiven Schaden nahm und dann in der postkonfliktären Phase mühsam wieder aufgebaut werden musste.

 

Die Gefahr ist groß, dass auch das syrische Hochschulwesen doch noch kollabiert bzw. weiteren ernsthaften Schaden nimmt. Dies hätte für den Wiederaufbau des Landes drastische Konsequenzen. Zum einen könnten die dringend benötigten Fachkräfte nicht bereitgestellt werden, zum anderen wäre ein aufwendiger Wiederaufbau zu finanzieren, der weitaus teurer käme als eine rechtzeitige Investition in den Erhalt und ggf. Ausbau der bestehenden Strukturen. Dazu sollte vor allem Hilfe für die Hochschullehrer angeboten werden: die fachliche und methodologische Weiterbildung, die Schaffung von Zugängen zu Wissen und Daten und die Ermöglichung wissenschaftlicher Aktivitäten. Dies würde die Hochschullehrer nicht nur besser qualifizieren, sondern auch stärker motivieren, wovon sehr unmittelbar auch die Studierenden profitieren würden und in einem weiteren Kontext das gesamte Land.

 

Dieser Text ist zuert erschienen in Politik & Kultur 4/2018.


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