Wiebke Ahrndt und Theresa Brüheim - 2. September 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Humboldt Forum / Kolonialismus-Debatte

Im Dialog mit Herkunftsgesellschaften


Der Deutsche Museumsbund veröffentlicht zweite Fassung des Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten

2018 hat der Deutsche Museumsbund erstmalig einen Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten herausgegeben. Nun ist im Juli 2019 die zweite aktualisierte Fassung erschienen. Wiebke Ahrndt leitet die Arbeitsgruppe „Kolonialismus“ beim Deutschen Museumsbund und verantwortet die mehrstufige Erstellung des Leitfadens. Theresa Brüheim spricht mit ihr über die Neuerungen im Leitfaden.

 

Theresa Brüheim: Welche Änderungen wurden in der zweiten Fassung berücksichtigt?

Wiebke Ahrndt: Infolge der ersten Fassung des Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten haben wir einige Rezensionen erhalten. Außerdem haben Mitglieder der Expertenrunde Artikel im Leitfaden ergänzt. Insbesondere aber haben wir mit zwölf Expertinnen und Experten aus insgesamt elf Herkunftsgesellschaften im Herbst 2018 den Leitfaden sehr intensiv diskutiert. Auf Grundlage dieser Gespräche haben wir einige Präzisierungen vorgenommen, Dinge deutlicher herausgestellt und das Rückgabekapitel bearbeitet. In der zweiten Fassung formuliert der Deutsche Museumsbund nun ganz klar seine Haltung zum Thema Rückgabe und fordert Transparenz und Kooperation mit den Herkunftsgesellschaften. Mit dieser Forderung richtet sich der Leitfaden auch an die Träger der Museen, denn die Umsetzung bedarf einer hinreichenden und dauerhaft gesicherten Finanzierung.

 

Es klingt bereits an: Die (Weiter-)Entwicklung des Leitfadens war von Beginn an in einem mehrstufigen Verfahren geplant. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Im ersten Schritt war es uns wichtig, eine Meinung und Haltung seitens der deutschen Museen zu formulieren. Wir sind das vollumfänglich angegangen und wollten die gesamte deutsche Museumslandschaft in den Blick nehmen. In dieser Heterogenität war es wichtig, zunächst zu einer Meinung, zu einer Haltung zu gelangen, auf deren Grundlage wir sprechfähig waren. Das war Schritt eins.

Schritt zwei war damit klar: Dabei kann es nicht bleiben. Wenn man einen Leitfaden entwickelt, der sich mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten beschäftigt, muss man mit Herkunftsgesellschaften in den Dialog treten und diesen Leitfaden auf der Grundlage dieser Gespräche weiterentwickeln. Gleichzeitig war die Öffentlichkeit bereits aufgefordert, sich mit Rückmeldungen in die Diskussion einzuschalten. Die umfassende öffentliche Diskussion und Rezension folgt aber erst jetzt nach dem Erscheinen der zweiten Fassung. Damit war klar, es wird auch eine dritte Fassung geben, die auf Grundlage der Rezensionen verfasst wird. Es wird auch eine Online-Begleitpublikation mit Praxisbeispielen und Richtlinien aus anderen Ländern geben. Da gibt es Erfahrungswerte z. B. in Neuseeland, von denen wir profitieren können. Wir haben auch die Möglichkeit, Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten, die 2013 veröffentlicht wurden, in diesem Rahmen zu aktualisieren und gemeinsam mit der dritten Fassung dieses Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten Ende 2020 zu veröffentlichen. Damit ist der mehrstufige Prozess erst mal abgeschlossen.

 

Die zweite Fassung legt unter anderem einen Schwerpunkt auf die stärkere Sensibilisierung für nichteuropäische Perspektiven. Was bedeutet das genau?

Das war ein starkes Anliegen der Diskutanten in unserem Workshop. Sie rieten, noch mal stärker den Blickwinkel zu wechseln und sich in die Perspektive der Menschen aus den Herkunftsgesellschaften zu versetzen. Daraus sind mehrere Kapitel entstanden. Z. B. äußert sich Rosita Worl aus Alaska in einem Kapitel zur allgemeinen und religiösen Bedeutung von Objekten in ihrer Kultur, um stärker dafür zu sensibilisieren, sich jenseits der Frage, wie Objekte in die Sammlung gelangt sind, auch damit zu beschäftigen, welche Bedeutung ein solches Objekt heute hat und damals hatte. Ein anderes viel diskutiertes Thema war die Dekolonisierung des Sammlungs- und Ausstellungsmanagements, das aktuell noch sehr stark von europäischen Denkweisen geprägt ist. Vorschläge waren: zum einen stärker auf Dialog und Zusammenarbeit zu setzen, weil sich daraus andere Blickwinkel ergeben; zum anderen Herkunftsgesellschaften direkt in den Ausstellungen zu Wort kommen zu lassen bzw. sie als Kuratoren zu gewinnen. Dazu gibt es einen Beitrag im Leitfaden, der von vier Autorinnen aus Samoa, Tasmanien, Namibia und Neuseeland verfasst wurde. Sie raten, die Sammlungsbestände zu digitalisieren, um auch online miteinander ins Gespräch zu kommen, und ggf. die Depots umzusortieren, um dort Räume zu schaffen, in denen Mitglieder von Herkunftsgesellschaften z. B. Zeremonien abhalten können. Das sind primäre Forderungen in der zweiten Fassung des Leitfadens, die stärker für nichteuropäische Perspektiven sensibilisieren wollen. Essenziell hierfür sind Dialog auf Augenhöhe, nachhaltige Kooperationen sowie Transparenz.

Wurde dabei versucht, möglichst viele Herkunftsgesellschaften abzudecken? Oder wurden geografische Schwerpunkte gesetzt?

Bei den Expertinnen und Experten haben wir natürlich gewisse Schwerpunkte gesetzt. Wir wollten Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen ehemaligen deutschen Kolonien dabeihaben. Das heißt, es waren Kolleginnen und Kollegen aus Namibia, Tansania und Samoa vor Ort. Außerdem wollten wir Experten aus Ländern gewinnen, die aufgrund ihrer eigenen Kolonialgeschichte in bestimmten Diskussionen weiter sind als wir, z. B. weil dort große indigene Bevölkerungsteile leben. Das sind beispielsweise die USA, vertreten durch eine Expertin aus Alaska, aber auch Australien und Neuseeland. Die haben einfach die Diskussionen schon vor uns geführt. Wir wollten aber auch Archäologen mit an Bord haben. Außerdem hat sich ein Vertreter vom Königshof von Benin in Nigeria und ein Experte aus der ostasiatischen Kunstgeschichte angeschlossen. Insgesamt waren es zwölf Expertinnen und Experten – eine Gruppe groß genug, um verschiedenste Weltteile abzudecken, und klein genug, um miteinander diskutieren zu können. Aber die ganze Welt abzubilden war tatsächlich nicht möglich. Deshalb noch mal der Aufruf, sich an der öffentlichen Rezension zu beteiligen, um so noch mehr Mehrstimmigkeit zu erreichen.

 

Welche Wege gehen die Kollegen und Experten beim Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in ihren Heimatländern? Wie groß sind die internationalen Überschneidungen?

Insbesondere bei den europäischen ethnologischen Museen gibt es eine sehr intensive Diskussion. Seit Kurzem gibt es auch ein Papier der niederländischen ethnologischen Museen zur Frage der Rückgabe. Das ist nicht identisch mit dem Rückgabekapitel unseres Leitfadens, aber geht in eine ähnliche Richtung. In den anderen Ländern wird es zwar überall intensiv diskutiert, aber es gibt keinen Leitfaden vergleichbarer Art in Europa.

 

Eine Besonderheit des Leitfadens ist die praktische Hilfestellung für die Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften. Sie waren Teil der ersten Fassung und wurden in der zweiten Fassung konkretisiert. Können Sie Beispiele nennen?

Die Praxistipps orientierten sich an den Säulen der Museen: Sammeln, Bewahren, Forschen, Vermitteln – ergänzt um ein Kapitel zur Rückgabe. Entlang dieser Aufgaben der Museen thematisieren wir, ob man heute noch Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten sammeln kann. Wenn ja, nach welchen Kriterien? Was ist zu bedenken, nicht nur bei der Konservierung, sondern auch bei Digitalisierung und Online-Stellung? Gerade bei sensiblem Sammlungsgut muss man sehr genau gucken, ob man Bilder ins Internet stellen darf. Gleiches gilt auch für Forschungsfragen in kooperativen Forschungsprojekten: Wie müssen diese aussehen? Wie muss ethnologische Provenienzforschung aussehen? Was ist bei naturwissenschaftlichen Sammlungen zu berücksichtigen? Beim Ausstellen ist zu beachten, mit welcher Perspektive auf die Sammlungen geblickt wird. Wir geben Hilfestellungen, aber sagen auch ganz klar: Jedes Haus muss für sich Wege finden, wie es die koloniale Vergangenheit der Sammlung thematisiert. Dabei ist es auch wichtig, dass die Objekte nicht eindimensional zu betrachten sind. Sie sind nicht allein Zeitzeugen der kolonialen Vergangenheit, sondern mehr. Und dieses Mehr muss seinen Raum in der Vermittlungsarbeit finden. Für all das ist jedoch eine entsprechende personelle Ausstattung nötig.

 

Außerdem haben Sie das Rückgabekapitel umformuliert.

Basierend auf dem Workshop haben wir es um einen Bereich erweitert. Wenn das Museum zu der Erkenntnis gelangt, dass etwas rechtlich und/oder ethisch in nicht vertretbarer Weise in die Sammlung gelangt ist, dann darf sich der Rückgabe nicht widersetzt werden. Dann muss sie stattfinden, wenn das von der Herkunftsgesellschaft gewünscht ist. Darüber hinaus gibt es Objekte, die von derart großer Bedeutung in der Herkunftsgesellschaft sind, dass sich Möglichkeiten finden lassen sollten, eine Rückgabe zu realisieren, unabhängig davon, wie ein Objekt in der Vergangenheit in die Sammlung gelangt ist. Wir haben nochmals verstärkt, was wir im ersten Leitfaden geschrieben haben: Seid offen in den Diskussionen mit den Herkunftsgesellschaften, denn selbst wenn eine Rückgabe aufgrund der Provenienz angezeigt sein mag, ist es nicht automatisch der einzige Weg, der sich eröffnet. Denn es gibt oft andere Wünsche und für die sollten wir ein offenes Ohr haben.

 

Vielen Dank.

 

In der Ausgabe 1-2/19 von Politik & Kultur schrieb Wiebke Ahrndt unter dem Titel „Nichteuropäische Perspektiven fördern“ einen Artikel zur ersten Fassung des Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Lesen Sie diesen hier.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.


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