Olaf Zimmermann - 2. September 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Denkmalkultur

Ohne Fehl und Tadel?


Denkmäler müssen neu gelesen, befragt und interpretiert werden

Am 1. September dieses Jahres wird die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin 125 Jahre alt. Was für ein Zusammenfall an Daten. Eine Kirche, die im Gedenken an Kaiser Wilhelm I. gebaut wurde, einen Tag vor dem im Deutschen Reich gefeierten Sedantag eingeweiht und deren Turmruine heute ein Mahnmal gegen Krieg und für Frieden und Versöhnung ist. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin zeigt eindrucksvoll, wie die Zeit Denkmäler verändert oder besser gesagt, warum Denkmäler immer wieder neu gedacht werden müssen. Diese Kirche, in der reichsten Stadt Preußens, der stolzen eigenständigen Stadt Charlottenburg erbaut, stand für den Sieg über den Erbfeind Frankreich und für die Reichsgründung. Die evangelische Kirche, ohnehin reichs- und kaisertreu, zeigte hier ihre enge Verbundenheit mit dem Haus Hohenzollern. Während des Nationalsozialismus war die Kirche zum einen Gottesdienstort der nationalsozialistischen Deutschen Christen und zum anderen wurde in der Wohnung eines der Pfarrer dieser Kirche der „Pfarrernotbund“ gegründet, aus dem die „Bekennende Kirche“ hervorging. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche fast vollständig zerstört. Übrig blieb der alte Turm. Der in einem Architekturwettbewerb Ende der 1950er Jahre siegreich hervorgehende Entwurf des Architekten Egon Eiermann sah den Abriss des alten Turms vor. Hiergegen regte sich energischer Protest der Bevölkerung. Der alte Turm blieb und musste widerwillig von Eiermann in das Gesamtensemble von Kirche, Kapelle und neuem Turm eingegliedert werden. Die neue Kirche fasziniert Besucherinnen und Besucher von nah und fern auch durch die blauen Glaswände, gestaltet vom französischen Glaskünstler Gabriel Loire aus Chartres. Seit 1987 gehört die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche der Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry an. Die Turmruine ist heute ein Mahn- und Denkmal gegen Krieg und für Versöhnung. Was für eine Veränderung von einer Kirche, die aus einem deutlichen Bezug auf einen siegreichen Krieg gegen Frankreich errichtet wurde, deren moderner Bau maßgeblich von einem Franzosen gestaltet wurde und die heute für Versöhnung steht.

 

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, die auch meine Gemeindekirche ist, ist für mich ein sehr gutes Beispiel für die Veränderung, die ein Denkmal nehmen kann und für die Arbeit am Denkmal. Ein Denkmal ist nicht abgeschlossen.

 

Dies wird auch an einem anderen Denkmal in Berlin deutlich. Nämlich jenem, das an die ermordeten Juden Europas erinnern soll, meist Holocaust-Mahnmal genannt. Es ist das genaue Gegenteil eines Siegesdenkmals. Es ist ein Denkmal der Scham. Es erinnert die nichtjüdischen Deutschen an die Schuld der Shoah. Es wurde nach jahrelangem Streit und hartnäckigem Druck aus der Zivilgesellschaft gebaut. Aus der jüdischen Community kam Kritik am Bau eines solchen Denkmals. Vom Zentralrat der Juden in Deutschland wurde es schließlich „abgenickt“. Bei der Tagung der Initiative kulturelle Integration im Januar dieses Jahres zur Erinnerung an 75 Jahre der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wurde von jüdischer Seite eindrucksvoll und prägnant vorgetragen, dass sie kein Denkmal zur Erinnerung an die Shoah brauchen, die Shoah ist Teil ihrer Familiengeschichte. Es sind die Menschen, die fehlen, die abgeschnittenen, die vernichteten Verbindungen, die immer präsent sind. Das Holocaust-Mahnmal ist für die anderen, für die Nachfahren der Täter. Musste es deshalb so groß sein, weil die Schuld so groß, so übermächtig ist? Und erreicht es seinen Zweck: Nie wieder Antisemitismus?

 

Im Denkmalparcours in Berlins Mitte vom Holocaust-Mahnmal zum Denkmal an die ermordeten Sinti und Roma vor dem Reichstag, dem Denkmal an die verfolgten Homosexuellen im Tiergarten bis zum Denkmal an die Vernichtung von psychisch Kranken.

 

Denkmäler werden in einer bestimmten Zeit errichtet, aus Ehrfurcht, aus Dank, zur Propaganda, aus Scham, im Gedenken. Sie müssen immer wieder neu gelesen, befragt und interpretiert werden. Das gilt auch für die aktuelle Diskussion im Zusammenhang der Kolonialismus- bzw. Postkolonialismusdebatte, die teils zu Denkmalstürzen führt.

 

Die Auseinandersetzung mit Denkmälern ist die Auseinandersetzung mit Geschichte, die eben nicht abgeschlossen ist, sondern immer wieder neu interpretiert wird. Daraus folgt, dass ehemals verehrte Heroen nach einigen Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten in einem anderen Licht gesehen werden. Oder um es noch einmal an einem Beispiel aus der Verbindung von Religion und Staat zu verdeutlichen. Die zahlreichen Martin-Luther-Denkmäler und -Devotionalien stehen für den Siegeszug des Protestantismus im Norden Deutschlands, sie stehen für die enge Verbindung von Reich und Kirche insbesondere nach der Reichsgründung 1871. Sie erinnern an einen großen Sprachschöpfer. Aber bilden sie einen Reformator oder doch eher einen Kirchenspalter ab? Erinnern sie nicht auch an den Kirchenkampf, und welche Relevanz hat der Antisemitismus Martin Luthers für die Rezeption der Denkmäler?

 

Denkmäler sind in der Regel eben nicht eindeutig. Das gilt insbesondere, wenn sie zu Ehren von Menschen errichtet werden bzw. Personen ehren, nein, verehren sollen. Wer ist schon ohne Fehl und Tadel? Oder um es am Beispiel von Otto von Bismarck zu verdeutlichen, erinnern seine Denkmäler an die ersten Schritte zur Sozialversicherung, an die Unterdrückung von Arbeitern und Sozialdemokraten, an den Ausrichter der Afrikakonferenz, an den Kirchenkampf, an ostpreußisches Junkertum oder an den Reichskanzler, der die Einigung des Reiches vorantrieb?

 

Die aktuelle Debatte um Denkmalstürze oder auch Straßennamen ist auch

eine Diskussion um das Selbstverständnis der Gesellschaft. Es geht letztlich auch um die Frage, wie in einer diversen Gesellschaft Denkmäler oder, umfassender gesagt, Erinnerungskultur gelebt und lebendig gehalten werden kann. Dabei gilt es auch zu debattieren, ob es so etwas wie eine gemeinsame Erinnerung in Form von Denkmälern geben kann oder ob es nur partikulare Erinnerungsformen gibt. Erinnerung wird immer wieder neu interpretiert. Das Gleiche gilt auch für Denkmäler. Ich bin daher fest davon überzeugt, dass auch die heute vermeintlich korrekt errichteten Denkmäler in einigen Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten ganz anders gesehen, hinterfragt und interpretiert werden. Denkmalstürze eingeschlossen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.


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