Michelle Müntefering - 1. September 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Denkmalkultur

Ein Denkmal für die Gastarbeiter


2021 jährt sich das Anwerbe-Abkommen mit der Türkei zum 60. Mal

Denkmäler, das kann man sagen, sind doppelgesichtig. Sie blicken in die Vergangenheit, aber sie erzählen auch von ihrer eigenen Gegenwart. Sie sind ein Spiegel des Selbstverständnisses einer Gesellschaft: Wer sind wir? Was ist uns wichtig? Woran wollen wir uns erinnern? Diese Parallelität ruft uns auch zum Diskurs auf, zur Interpretation – wie dies derzeit auch mit den Kolonialdenkmälern geschieht, die lange viel zu einseitig in die eigene Vergangenheit blickten.

 

Schauen wir uns heute in Deutschland um, erkennen wir unschwer ein buntes und vielfältiges Land, nicht nur weil inzwischen jeder vierte Deutsche einen Migrationshintergrund hat. Im Ruhrgebiet, meiner Heimat, gibt es auf Nachbarschaftsfeiern nach Gegrilltem immer auch polnischen Wodka und türkisches Baklava.

 

Doch nicht nur das Ruhrgebiet ist durch Vielfalt geprägt. Sondern – und das wird in unserer Erinnerungskultur viel zu wenig gewürdigt – auch Deutschland wäre in seiner heutigen Form ohne diejenigen, die zu uns gekommen sind, kaum denkbar. Insbesondere die Leistung der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die unser Land mit aufgebaut haben, wird viel zu selten gewürdigt. Das Wirtschaftswunder wäre ohne sie nicht möglich gewesen.

 

Im öffentlichen Erinnerungsraum findet man davon: wenig. In unserer Erinnerungskultur und in unserem Selbstverständnis spielt die Migrationsgeschichte Deutschlands kaum eine Rolle. Dabei ist es doch gerade jetzt an der Zeit, an die Leistungen der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zu erinnern.

 

Im Oktober 2021 wird sich das deutsch-türkische Anwerbeabkommen zum 60. Mal jähren. Ein wichtiges Jubiläum, das wir nutzen sollten, um uns stärker mit diesem Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte auseinanderzusetzen, und ein guter Anlass, den Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern ein Denkmal in unserer Mitte zu setzen. Das ist längst überfällig. Es braucht kein Denkmal aus Stein zu sein, nicht noch ein Mann auf einem Sockel. Es kann ganz anders aussehen.

 

Was es braucht, ist ein Ort des Dialogs, der zum Nachdenken darüber anregt, wer wir sind und wie wir miteinander leben möchten. Es geht um Anerkennung. Aber es geht auch darum zu zeigen, dass die Geschichte der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter unsere gemeinsame Geschichte ist. Es geht darum zu erzählen, wie sich unser Land durch Migration gewandelt hat, wie es bunter und vielfältiger geworden ist.

 

Denn nach wie vor fehlt es an Bewusstsein dafür, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Im Gegenteil, wir erleben rassistisch motivierte Gewalt, wie in Hanau oder durch den NSU. Was für Schmerzen auf den Seelen derer, die mit diesen menschenverachtenden Angriffen gemeint sind oder ihnen gar zum Opfer fallen.

 

Zum Glück: Es gibt auch wichtige Fortschritte. Es sind viele Menschen in unserem Land, die Gewalt verurteilen, sich nicht mit rassistischem Gedankengut gemein machen, gegen seine Verbreitung eintreten. Das neue Zuwanderungsgesetz etwa hat zudem ein Stück weit mit einer Lebenslüge der Bundesrepublik aufgeräumt und die Gesetzgebung der Wirklichkeit angepasst. Das alles aber reicht nicht. Eine Demokratie braucht Gesetze, aber sie braucht eben auch eine Erzählung. Und zu dieser Erzählung gehört auch die Geschichte der ehemaligen Gastarbeiter.

 

Das Gastarbeiterdenkmal, das ich vorschlage, soll ein Ort für eine solche Erzählung sein: ein Ort, der denjenigen eine Stimme gibt, denen wir viel zu lange viel zu wenig zugehört haben. Ein Ort, der von den Menschen erzählt, die zu uns nach Deutschland gekommen sind und die lange Zeit tatsächlich nur als Gäste auf Zeit betrachtet wurden. Es ist eine Erzählung von Diskriminierungserfahrungen, aber eben auch von vielen, vielen Erfolgsgeschichten, die zeigen, welche Möglichkeiten unsere Gesellschaft allen Menschen bieten kann.

 

Das Gastarbeiterdenkmal sollte ein Ort der Multiperspektivität sein, der die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Erfahrungen von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern in Deutschland zeigt – beispielsweise auch die Migrationsgeschichte der Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR.

 

Dabei lässt sich an viele schon existierende Konzepte und Ideen anknüpfen. Guiseppe Bruno, der mit 16 Jahren selbst als Hilfsarbeiter nach Frankfurt am Main kam, setzte sich jahrzehntelang für die Freundschaft zwischen Gastarbeitern und Deutschen und für ein Gastarbeiterdenkmal am Frankfurter Hauptbahnhof ein.

 

Im Ruhrgebiet haben das Ruhrmuseum und die Stiftung Zollverein die Debatte über ein Gastarbeiterdenkmal aufgegriffen. Im Rahmen des Fotoprojektes von Ergun Çağatay „Türken in Deutschland 1990“ soll im kommenden Jahr ein von der Stiftung Zollverein initiierter Wettbewerb für ein solches Denkmal integriert werden. Die Präsentation der Konzeptentwürfe soll von einem Diskurs- und Kulturprogramm begleitet werden.

 

Auch das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln erzählt die Geschichte der Migration in Deutschland anhand von Objekten und Zeugnissen.
Klar, ein Denkmal allein ändert noch keine Gesellschaft. Aber bereits die Diskussion darüber gibt Raum zu kritischer Reflexion und Selbstbefragung. Denn es ist wichtig, dass wir nicht nur zurückschauen, sondern auch darüber nachdenken, was wir aus der Erfahrung der Gastarbeiter für die Gegenwart lernen können.

 

Und es geht darum, Migration endlich als einen konstituierenden Teil unserer Gesellschaft und Demokratie zu verstehen, als Realität und Normalzustand in einer globalisierten Welt. Dazu müssen wir die Geschichte der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter als unsere gemeinsame Geschichte erzählen, und zwar nicht nur in Form von Ausstellungen, sondern auch in Filmen, Büchern, Bildern. Wir müssen Geschichte erzählen, um sie zu begreifen.

 

Ein Gastarbeiterdenkmal als Ausdruck für eine offene und vielfältige Gesellschaft, die Zuwanderung nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung und Chance betrachtet. Ein Denkmal mit vielen hoffnungsvollen Gesichtern – das wäre eine deutsche Geschichte, die ich im Jahr 2021 gerne hören würde.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.


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