Johann Hinrich Claussen - 28. Juni 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Meinungsfreiheit

Meinungshändler


Wo ist der reformatorische Individualismus geblieben?

Ist es eine ansteckende Krankheit oder – schlimmer noch – eine neue Mode? Vielleicht habe ich bisher nicht richtig aufgepasst, aber mir scheint, dass in jüngster Zeit die Fälle von schwerer „Petitionitis“ deutlich zugenommen haben. Darunter verstehe ich den nicht zu unterdrückenden Drang, zu einem beliebigen Thema ein flammendes Plädoyer dafür oder dagegen zu verfassen und dann massenhaft Unterschriften von mehr oder weniger bekannten Mitmenschen einzusammeln. Im Fieberwahn werden anschließend die erreichten Pegelstände in die Öff entlichkeit gerufen: schon über 10.000 Unterschriften! Man könnte hier von kommunikativer Rudelbildung sprechen – man kennt so etwas in ähnlicher Form ja vom Fußballplatz. Die blanke Masse erregter Menschen soll eine Entscheidung durchsetzen oder verhindern. Mich wundert allerdings, dass besonders Intellektuelle und Künstler von dem „Petitionitis“-Virus befallen werden. Eigentlich müsste ihnen doch daran gelegen sein, mit eigenen, individuell verfassten Texten und ihrer unverwechselbaren Stimme wahrgenommen zu werden. Sehnen sie sich nach der wärmenden Enge eines Kollektivs? Oder empfinden sie es als entlastend, wenn jemand anderes etwas für sie zu Papier bringt und sie nur zu unterschreiben brauchen? Ähnlich ist es mit den immer beliebter werdenden sogenannten „Off enen Briefen“: Jemand hat etwas geäußert, was andere zu Recht oder Unrecht erzürnt. Doch anstatt ihn direkt anzusprechen, mit ihm zu diskutieren, verfasst ein Team eine Beschämungsepistel, gern verbunden mit der Forderung nach Rücktritt oder Entlassung, und geht auf Unterschriftensammlung. Der Angegriff ene wird dann gegenaggressiv reagieren. Oder er wird sich – wenn er so klug ist, sich von Medienexperten beraten zu lassen – flink entschuldigen und für eine gewisse Zeit verstummen. Eine Verständigung ist so eher nicht möglich. Aber darum geht es hier ja gar nicht, sondern um Klassenkeile, wie man sie aus der Grundschule kannte. In den asozialen Netzwerken soll die „Petitionitis“ besonders heftig grassieren, aber da halte ich mich fern. Mir reicht schon, was es auf Papier gibt: diese meist schlechten, weil hektisch und von einem Kollektiv verfassten Texte, die kaum verhohlene kommunikative Aggressivität, die Unlust zum Zuhören und Nachdenken, der Zwang, andere und sich selbst in irgendwelche Schubladen zu pressen, diese Listen mit den üblichen Verdächtigen. Manchmal frage ich mich, ob es dafür eigentlich schon spezielle Agenturen gibt, die über die entsprechenden Vorlagen, Datensätze und Verteiler verfügen.

 

Wehmütig denke ich da – wer kann es mir verübeln? – an Martin Luther zurück. Zwar hat er nicht eben immer vornehm mit seinen Gegnern gestritten, aber er hat es stets unter eigenem Namen getan, seine Thesen selbst an eine Tür geschlagen, eigenständig veröff entlicht oder mit den Worten eingeleitet: „Hier stehe ich!“. Mehr von diesem reformatorischen Individualismus wünschte ich all den Meinungshändlern unserer Tage, die jetzt noch von einer heftigen „Petitionitis“ geschüttelt werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2019.


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