Stephan Detjen - 28. Juni 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Meinungsfreiheit

Die Legende vom Rechtsbruch – ein Lehrstück


Die Geschehnisse des Sommers 2015

Der Rechtspopulismus und neue Nationalkonservatismus hat in Deutschland einen besonderen Motor. Er treibt die AfD sowie die Bewegungen in ihrem rechten Umfeld an und ermöglicht ihnen das Vordringen in bürgerliche Milieus, die mit schmuddeligen Rechtsextremisten, pöbelnden Ausländerfeinden und dumpfen Geschichtsrevisionisten eigentlich nicht in einen Topf geworfen werden wollen. Der Treibstoff, der den Durchbruch vom rechtsextremen Rand in die Mitte der Gesellschaft beschleunigt, ist die Behauptung, „die Regierenden“ hielten sich nicht mehr an geltendes Recht, die Verfassung werde notorisch missachtet, in Deutschland habe das Unrecht die Herrschaft übernommen.

 

Der Eindruck, die Regierung lasse Unrecht geschehen oder setze sich gar selbst über ihre rechtlichen Bindungen hinweg, weckt gerade bei jenen Zorn, Wut und Widerstand, die sich selbst als besonders rechtschaffen empfinden: Ärzte, Professoren, Lehrer und Rechtsanwälte, die sich zu fein dafür waren, mit Pegida-Demonstranten auf die Straßen zu ziehen, unterschrieben im vergangenen Jahr zu Zentausenden gemeinsam mit offenen Rechtsextremisten eine Protestresolution, in der die Wiederherstellung von Recht und Ordnung an den Grenzen gefordert wurde.

 

Seit der Gründung der AfD ist die Klage über den angeblichen fortgesetzten Rechtsbruch der Bundesregierung auch ein rhetorischer Generalbass, der im politischen Sound der Partei pulsiert. „Wir haben eine Regierung, die sich nicht an Recht und Gesetzt“ hält, rief der Ökonom Bernd Lucke seinem Publikum bei der Parteigründung im März 2013 zu. Zwei Jahre später aber war die AfD am Ende: Im Sommer 2015 hatte sich das Führungspersonal zerlegt. Bernd Lucke war als Vorsitzender gestürzt. In den Meinungsumfragen lag die AfD unter der 5-Prozent-Grenze.

 

Alexander Gauland nannte die Flüchtlingskrise rückblickend ein „Geschenk“ für seine Partei. Dass die AfD nicht nur mit Überfremdungsängsten, Islamophobie und rassistischen Stereotypen mobilisieren, sondern auch an die Rechtsbruch-Rhetorik ihrer Gründergeneration anknüpfen konnte, wurde ihr auch von anderen leichtgemacht. Es waren Juristen, Journalisten und Politiker, die mit raunend vorgetragenen Bedenken, überdrehten Theorien und einer nationalen Verengung des Rechtsverständnisses den Glauben beförderten, im Sommer 2015 sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen. Wie Tankwärter an den Zapfsäulen trugen sie mit dazu bei, die leeren Tanks der AfD wieder aufzufüllen. Wie Goethes Zauberlehrling riefen sie Geister herbei, die sie später wieder einholten und von rechts außen unter Druck setzten. Aber auch die Regierung selbst trägt Verantwortung dafür, dass sich der Vorwurf bis in weite Teile der sie tragenden Parteien verfestigte und dort bis heute weiter gärt. Die Akteure in Kanzleramt und Ministerien unterschätzten lange die Wucht, mit der der Rechtsbruch-vorwurf sie einholen sollten. Statt die rechtlichen Argumente, die sie für sich in Anspruch nehmen konnte, offen zu erklären und zu verteidigen, versuchte auch die Regierung selbst, sich im juristischen Deutungsnebel möglichst viele Optionen und Rechtfertigungsstrategien offen zu halten. Zu einer Klärung des Streits vor dem Bundesverfassungsgericht kam es nie, weil die CSU den angedrohten Gang nach Karlsruhe scheute und eine Klage der AfD Anfang dieses Jahres aus formalen Gründen abgewiesen wurde.

 

Dabei waren sich die Verantwortlichen im Sommer 2015 aus guten Gründen sicher, gerade in rechtlicher Hinsicht auf der richtigen Seite zu stehen.

 

Als Thomas de Maizière auf dem Höhepunkt der Krise vor der Frage stand, ob die deutsch-österreichische Grenze mit massiven Polizeikräften und dem Einsatz von Wasserwerfern abgeriegelt werden solle, sah sich der Minister mit einer gespaltenen Führungsmannschaft konfrontiert: auf der einen Seite waren die Beamten der Sicherheitsabteilungen um Bundespolizeichef Dieter Romann, der mit rigiden, notfalls auch brutalen Gesten ein Zeichen unbedingter Entschlossenheit setzen wollte. Auf der anderen Seite waren die Verfassungs-, Ausländer-und Europarechtsexperten, die einen endgültigen Kollaps des europäischen Asylrechts befürchteten, wenn auch Deutschland unter dem Druck der Krise seine Bindung an die Dublin-Regeln aufgeben würde. In der entscheidenden Besprechung am 13. September folgte der Minister den Einwänden seiner Fachjuristen, die eine Zurückweisung von Asylsuchenden für unvereinbar mit den Dublin-Regeln hielten. Es ist eine bittere Pointe der Geschichte, dass ausgerechnet diese Entscheidungssituation zu dem Augenblick stilisiert wurde, an dem das Unrecht die Herrschaft an den deutschen Grenzen übernahm.

 

Horst Seehofer prägte das Wort von der „Herrschaft des Unrechts“ in einem Zeitungsinterview, mit der er die Stimmung vor dem traditionellen politischen Aschermittwoch der CSU im Februar 2016 anheizen wollte. Das Diktum erinnerte an Begriffe, die bis dahin nur für den NS-Staat oder die SED-Diktatur verwendet worden waren. Seehofer war indes nicht der erste, der es mit Blick auf die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin verwendete. Im Dezember 2015 war in der Zeitschrift „Cicero – Magazin für politische Kultur“ ein Artikel des bis dahin weitgehend unbekannten Kölner Staatsrechtsdozenten Ulrich Vosgerau erschienen. Er stand unter der Überschrift „Herrschaft des Unrechts“. Vosgerau, der später die AfD-Klage beim Bundesverfassungsgericht formulierte, schilderte die Kanzlerin in seinem Artikel als Kopf einer kriminellen Schleuserorganisation. Dass sich die Regierung bei ihren Entscheidungen auf europarechtliche Regeln berufen konnte, war dem Juristen durchaus bewusst. Das Europarecht aber war in den Augen Vosgeraus lediglich Ausdruck einer von „Politik und Medien“ propagierten Ideologie. Der Vorwurf des Rechtsbruchs wurde begründet, in dem das Recht selbst delegitimiert wurde. Der krude Aufsatz zog jedoch Kreise. Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach empfahl das Pamphlet im Deutschlandfunk-Interview, um seine Zweifel an der Rechtsmäßigkeit des Regierungshandels zu begründen. Aus dem Munde des Bayerischen Ministerpräsidenten erreichte die schrille Anklage schließlich die breite Öffentlichkeit. Für die AfD bedarf es seitdem kaum noch eines weiteren Begründungsaufwands, um die Rechtsbruch-These unter die Leute zu bringen. Sie wurde zu einer Legende, die ihre Wirkung ganz aus sich selbst heraus entfaltet. Ihre Geschichte aber ist auch ein politisches Lehrstück. Es illustriert, dass Recht und Verfassung ein zentrales Kampffeld der Auseinandersetzung um die Zukunft Europas sind. In der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ nach Peter Häberle liegt es an den Befürwortern eines offenen, europäischen Rechts- und Demokratieverständnisses, dieses Feld nicht den Apologeten der nationalstaatlichen Verengung und Schließung zu überlassen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2019.


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