Olaf Zimmermann - 29. März 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Jüdischer Alltag

Alles andere als normal


Jüdisches Leben in Deutschland

Jüdischer Alltag in Deutschland, so lautete der Titel des Fotowettbewerbs, den die Initiative kulturelle Integration zusammen mit Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus und dem Zentralrat der Juden in Deutschland ausgelobt hatte. Am 8. Oktober letzten Jahres wurde der Startschuss gegeben, bis zum 20. Dezember konnten Fotos eingereicht werden, die besten zehn wurden von einer hochkarätig besetzten Jury ausgewählt. Sie sind hier im Schwerpunkt dokumentiert.

 

Ziel war es, das normale Leben, den jüdischen Alltag in Deutschland zu zeigen und damit ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Doch ist das Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschland normal? Vielerorts leider nicht. Das zeigt auch eindrücklich das Siegerfoto des Wettbewerbes „Ein Schutzmann für Kafka“ von Detlef Seydel (Seite 20).

 

Es ist nicht normal, wenn jüdische Buchhandlungen von Polizisten geschützt werden müssen. Es ist empörend, wenn Kindergärten bewacht werden müssen, weil die Sorge vor antisemitischen Anschlägen besteht. Es ist keineswegs normal, wenn Schülerinnen und Schüler auf dem Weg von der Schule zum Hort von bewaffneten Wachmännern begleitet werden. Es ist überhaupt nicht normal, wenn hochrangige Vertreterinnen und Vertreter des Zentralrats der Juden Personenschutz benötigen. Es ist alles andere als normal, wenn Jüdinnen und Juden, weil sie religiöse Symbole tragen, verbal oder sogar tätlich angegriffen werden. Und es ist ganz und gar nicht normal, dass Synagogen bewacht werden müssen. Ich will und werde mich mit dieser Form von „Normalität“ nicht abfinden. Wir, die gesamte Gesellschaft, dürfen uns nicht an diese „Normalität“ gewöhnen.

 

Auf dem Gebiet, das heute Deutschland ist, leben, wie das Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zeigt, seit 1.700 Jahren Jüdinnen und Juden. Das Rheinland, die SchUM-Städte Mainz, Worms, Speyer, aber auch Köln, Frankfurt/Main und viele andere Orte waren über Jahrhunderte hinweg Zentren jüdischen Lebens in Deutschland. Sie waren leider ebenso Orte von Antisemitismus, Verfolgung und Pogromen. Ganze Ortschaften, wie auch in der unmittelbaren Nachbarschaft meines Heimatortes im Taunus, wurden schon vor der Shoah von den dort ansässigen Jüdinnen und Juden verlassen, weil sie Antisemitismus und Verfolgungen ausgesetzt waren. Der jahrhundertealte, auch durch die Kirchen beförderte Antisemitismus gipfelte in der industriellen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, der Shoah. Sie ist singulär.

 

Heute zählt der Zentralrat der Juden in Deutschland rund 100.000 in Deutschland lebende Juden und Jüdinnen. Selbst wenn diejenigen hinzugezählt werden, die keiner Gemeinde angehören, bleiben Juden und Jüdinnen mit Blick auf eine Gesamtbevölkerung von 83 Millionen Menschen in Deutschland eine kleine Gruppe. Eigentlich kein Grund, sich dieser Gruppe besonders zu widmen.

 

Doch und gerade, ist es meines Erachtens notwendig und unerlässlich, sich mit dem jüdischen Leben in Deutschland zu beschäftigen. Wie leben, lieben, feiern, streiten, tanzen, hüpfen, beten, danken, kochen und was auch immer Jüdinnen und Juden in unserer Nachbarschaft? Gerade diese Normalität kommt in vielen der Bilder des Fotowettbewerbs zum Ausdruck. Z. B. wenn jüdische Kinder, wie auf dem Foto von Evgenia Lisowski „Auf dem Weg zur Schule“, das im Wettbewerb den zweiten Preis erhielt, auf die Straßenbahn warten (Seite 29). Oder wie auf anderen ausgezeichneten Fotografien, wenn sie auf dem Gehweg hüpfen, wenn junge Menschen sich an Demonstrationen beteiligen, wenn, wenn, wenn … Es geht darum, das Leben zu zeigen und sich daran zu erfreuen.

 

Die Auseinandersetzung mit dem aktuellen jüdischen Leben ist ein Weg, dem sich stärker verbreitenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen. Begegnungen können dazu beitragen, Vorbehalte und Ängste auszuräumen. Den anderen als das zu sehen, was er oder sie ist, ein Mensch wie man selbst. Und vor allem können sie die Vielfalt und den Reichtum jüdischen Lebens erfahrbar machen.

 

Jüdischsein in Deutschland ist sehr unterschiedlich: Es reicht von orthodox zu säkular, es ist russisch, deutsch oder israelisch geprägt, es ist jung, aufmüpfig und lebendig. Dieses vielfältige jüdische Leben in Deutschland zeigen die ausgezeichneten Fotoarbeiten. Dabei wird auch deutlich, dass der legendäre jüdische Humor eine starke Waffe gegen Ausgrenzung ist. „Evgeniya And Other Kosher Berliners“, das mit dem dritten Preis ausgezeichnete Foto von Sonia Alcaina Gallardo und Evgeniya Kartashova (Seite 28), ist dafür ein wunderbares Beispiel.

 

Die Auseinandersetzung mit dem Judentum in Deutschland ist geprägt von den Bildern der Shoah. Kaum jemand, der Bilder aus den Vernichtungslagern gesehen, Texte darüber gelesen oder die authentischen Orte besucht hat, vergisst dies. Die Bilder brennen sich jedem Einzelnen ein und sind Teil des kollektiven Gedächtnisses. Doch jüdisches Leben in Deutschland ist mehr als die Zeit von 1933 bis 1945. Das normale jüdische Leben vor 1933 gehört ebenso dazu wie der bereits zuvor bestehende Antisemitismus. Das nach 1945 wieder entstandene jüdische Leben zählt dazu wie der gegenwärtige erschreckend wachsende Antisemitismus.

 

Beschäftigung mit dem aktuellen jüdischen Leben muss mehr sein als Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Jüdisches Leben ist integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft und zugleich bestehen Besonderheiten, wie beispielsweise die Speisegebote oder auch andere Feiertage. Dies als Bereicherung und nicht als Bedrohung zu vermitteln und zu verstehen, ist das Gebot der Stunde.

 

So wie das Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschland leider alles andere als normal ist, ist die Auseinandersetzung der Mehrheitsgesellschaft mit dem jüdischen Leben in Deutschland alles andere als normal.

 

Der Fotowettbewerb und andere Aktivitäten der Initiative kulturelle Integration sollen einen Beitrag zu mehr Normalität leisten. Denn Normalität kann auch etwas sehr Schönes sein.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.


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