Gerald Mertens - 30. April 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Arbeiterkultur

Musiker, vereinigt euch?


Viele Musikschaffende sehen sich immer noch als Einzelkämpfer

Die Corona-Pandemie wirkt in vielen Bereichen der Gesellschaft wie eine Lupe: Die Beschränkungen des öffentlichen Lebens, die Eingriffe in Berufsalltage lassen in besonderer Weise Defizite erkennen, die Fachleuten schon vorher bekannt waren, die aber jetzt erst eine breitere Aufmerksamkeit erhalten. Im Krankenhaus- und Pflegebereich, in der Bildung, bei der Digitalisierung und auch in der Kultur.

 

Im Musikleben tritt verstärkt die Zweiklassengesellschaft von Festangestellten und Freischaffenden ins öffentliche Bewusstsein: Wer als Musiker im Orchester, in einem Opern- oder Konzerthaus, im Rundfunk, aber auch bei der Kirche oder in einer Musikschule fest angestellt ist, bleibt auch während der Pandemie über sein Arbeitsverhältnis sozial abgesichert, ggf. auch mithilfe von Kurzarbeitergeld. Demgegenüber befinden sich fast alle freischaffenden Musiker jeglicher Stilrichtungen, Sänger wie Instrumentalisten, in ihrem sozialen Status bedroht und werden nur durch Lebenspartner, Familie oder öffentliche Sozialleitungen aufgefangen. Die Kulturpolitik in Bund und Ländern ist derzeit besonders gefordert, hier endlich massive Verbesserungen herbeizuführen.

 

Vor fast 200 Jahren saßen die Berufsmusiker meist noch im selben Boot. Der Historiker Martin Rempe hat sich in seinem 2020 erschienenen Buch „Kunst, Spiel, Arbeit“ intensiv mit der Entwicklung des Musikerberufs und seiner sozialen Stellung in der Gesellschaft befasst. Die Situation Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt er wie folgt: „Ob höfisch, städtisch oder privat beschäftigt, gelang Orchestermusikern in der Regel der gesellschaftliche Anschluss an ihr zunehmend bürgerliches Publikum nicht. Vielmehr verharrten sie ungeachtet eines wachsenden beruflichen Selbstverständnisses als Künstler auf einer sozialen Stufe mit Lohnarbeitern und Handwerkern.“ Lediglich im stark wachsenden Bereich der Militärmusik gelang es Musikern, ihren gesellschaftlichen und sozialen Status signifikant anzuheben. Um insgesamt eine Verbesserung ihrer sozialen Lage herbeizuführen, gründeten 1831 rund 150 Musiker zunächst nur in Hamburg den Hamburger Musikerverein; vor allem um solidarisch für Krankheit und Alter vorzusorgen, später auch um gegen unfaire Beschäftigung vorzugehen. 30 Jahre später entstand der Allgemeine Deutsche Musikerverein (ADMV), 1872 der Allgemeine Deutsche Musikerverband (ADEMUV). Es gab zwar große Gemeinsamkeiten mit der sozialliberalen Gewerkschaftsbewegung, aber proletarische Parolen im „Kampf gegen Ausbeutung und Sklaverei“ fanden mehrheitlich bei Berufsmusikern keinen Anklang, so weiter bei Rempe. Das berufliche Selbstverständnis als Künstler unterschied sich deutlich von dem der Fabrikarbeiter.

 

Ab etwa 1900 führte verstärktes politisches Lobbying von Orchestermusikern und ihren Vereinigungen zu einer stetigen strukturellen Verbesserung der sozialen Situation. Die Übernahme von Hofkapellen durch Kommunen und Länder mit dem Ende des Kaiserreichs und die Erhöhung der öffentlichen Finanzierung, ab Mitte der 1920er Jahre die Gründung von festen Rundfunkensembles und schließlich in den 1930er Jahren die weitgehende Gleichstellung von Orchestermitgliedern mit Beschäftigten des öffentlichen Dienstes – wenn auch unter dem Schatten der Nationalsozialisten – waren wichtige Wegmarken der sozialen Emanzipation. Weitere positive Schübe folgten nach der Gründung der Bundesrepublik und der Wiedervereinigung Deutschlands.

 

Während es in den USA mit der American Federation of Musicians oder in Großbritannien mit der Musicians Union große einheitliche Musikergewerkschaften gibt, die sparten- und genreübergreifend Interessen aller Berufsmusiker vertreten, war und ist die Situation in Deutschland stark fragmentiert: Komponisten, Tonkünstler, Jazzer, Rock- und Popmusiker, Opernchorsänger, Gesangssolisten etc. haben jeweils ihre eigenen Verbände bzw. Gewerkschaften. Und längst nicht alle Angehörigen dieser Berufsgruppen sind in ihnen organisiert. Viele Künstlerinnen und Künstler sehen sich offenbar immer noch als Einzelkämpfer.

 

Orchestermusiker und Rundfunkchormitglieder hingegen sind zu über 90 Prozent in der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) organisiert. Die Zahl der Freischaffenden in der DOV steigt inzwischen kontinuierlich an, vor allem aus dem im Umfeld selbstständiger Orchesteraushilfen und Mitgliedern freier Ensembles, aber auch darüber hinaus. Die DOV hat im März 2021 bundesweit alle Theater- und Konzertorchester aufgefordert, bei Wiederaufnahme des Proben- und Spielbetriebs zukünftig Aushilfen vorrangig aus der freien Szene zu verpflichten. Die durch die Corona-Pandemie entstandene unverschuldete Notsituation vieler Freischaffender hat auf jeden Fall die Solidarität der Festangestellten beflügelt. Diesen Schwung gilt es zu nutzen. Denn – es mag sich abgedroschen anhören: Gemeinschaft macht am Ende stark.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.


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