C. Wolfgang Müller - 30. April 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Arbeiterkultur

„Mit uns zieht die neue Zeit“


Arbeiterkultur und Arbeiterbildung

Um die ökonomischen Wachstumsinteressen der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu stoppen und die Gesellschaft für allgemein-menschliche Interessen und Bedürfnisse dienstbar zu machen, sei eine aktive und in ihrem Bewusstsein entwickelte Arbeiterklasse ein notwendiger Hebelarm – so sagten und schrieben es die Gründungsväter und die Gründungsmütter der Arbeiterbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in ihren historischen und dialektisch-materialistischen Streitschriften. Aber wie könnten Arbeiter in einer geeinten Arbeiterbewegung zu einem solchen entwickelten politischen Bewusstsein kommen?

 

Drei Voraussetzungen seien notwendig: Alle Arbeiter sollten sich zu politisch bewussten Angehörigen einer einheitlichen Arbeiterklasse bilden. Sie sollten sich an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Wohnorten in politisch-kulturellen Gemeinschaften solidarisieren. Und sie sollten ihre Zusammenarbeit in der Freizeit in einer eigenen politisch verantworteten sozialen Kultur gestalten. Das war der Grundgedanke für die Entwicklung einer eigenständigen Arbeiterkultur. Einer eigenständigen Kultur, die nicht übergestülpt war, sondern die mit eigenen Köpfen und Händen geschaffen und angeeignet werden konnte. Also eigenständige Kulturarbeit.

 

Das scheint wirkungsvoll gewesen zu sein. So stellten die Bismarck’schen Sozialistengesetze zwischen 1878 und 1890 nicht nur die organisatorisch-agitatorische Arbeit der Sozialdemokratischen Partei unter Strafe, sondern auch die musikalischen Auftritte des Allgemeinen Sängerbundes.

Rasch wurden Besucherorganisationen gebildet, um das Theater auch für Arbeiter zugänglich und erschwinglich zu machen. Sie wählten naturalistische und manchmal auch symbolistische Theaterproduktionen aus, die dem etablierten ästhetischen Geschmack des Bürgertums widersprachen und die neue Sichtweisen auf neue Realitäten vorwegnahmen und einübten. In Berlin und in anderen Großstädten bildeten sich „Volksbühnen“ mit einem eigenen Repertoire und eigenen Inszenierungen.

 

Dabei wurden auch geografische Grenzen überschritten. Skandinavische Dramen und später auch sowjetische Inszenierungen im ersten Jahrzehnt nach der Märzrevolution wurden adaptiert. Und in der Bildenden Kunst bahnten sich Stilrichtungen gegen das Biedermeier, gegen den bürgerlichen Realismus und gegen den Wilhelminismus Antons von Werner an, neue Sichtweisen, die allerdings keinen Widerhall bei der Mehrheit von Arbeitern und kleinen Angestellten fanden. Die „neue Kunst“ des 20. Jahrhunderts ging an den Arbeitern und der Arbeiterbewegung vorüber, wurde lediglich von jungen Intellektuellen rezipiert, die für eine kurze Zeit ihr „linkes Herz“ entdeckten und sich dann sehr schnell wieder neuen kulturellen Echoräumen zuwandten.

 

Ich selbst wurde in den 1950er Jahren von der Arbeiterjugendbewegung geprägt und kann deshalb besser von jener Beschäftigung mit unserer Kultur berichten, die sich eher auf ein Selbermachen richtete, ohne dabei den Anspruch auf eine Rezeption der sogenannten Hochkultur zu haben. Dabei spielte zunächst das Laienspiel eine Rolle. Es war von der bürgerlichen Jugendbewegung wiedergefunden worden und wurde durch Fastnachtsspiele aus dem Umfeld des Hans Sachs belebt. Die Arbeiterjugendbewegung erfand neue, klassenkämpferische Texte. Sie entdeckte auch das Bewegungsspiel und den Bewegungschor aufs Neue, der schon als Vorläufer der griechischen Tragödie und im Schuldrama des Humanismus eine Rolle gespielt hatte. Jetzt sollte er als Sinnbild dafür herhalten, dass Kultur und kulturelle Ausdrucksformen keine Sache von begabten Individuen wären, sondern dass sie die schöpferischen Kräfte aller Menschen berührten und bewegten.

 

Der kulturbezogene Bildungsbegriff, der in der Arbeiterbewegung heimisch geworden war, bestand demnach aus drei Facetten: Da war einmal die Aufklärung über die Strukturgesetze der vorfindlichen Gesellschaft und ihrer politisch-ökonomischen Grundlagen. Dann die Selbstbildung als Aneignung der fortschrittlichsten Manifestationen der gegenwärtigen bürgerlichen Kultur und ihrer Schattenseiten im Wilhelminismus. Und schließlich Formen der kulturellen Selbsttätigkeit breiter Massen der werktätigen Bevölkerung und ihrer jungen Generation in schlichteren Formaten gemeinsamer Produktionen vor einem beifallsfreudigen Publikum.

 

Die Hochzeit dieser kulturell sensiblen Phase der deutschen Arbeiterbewegung waren zweifellos die 14 Jahre der ersten deutschen Republik. Ihre Berliner Bühne war die Volksbühne mit einem eigenen Haus auf den Mauern des alten Scheunenviertels und mit einem Repertoire von Gerhart Hauptmann bis zu Bertolt Brecht und seinen Inszenierungen als Lehrstücke – die allerdings nicht als Belehrungen für die Zuschauer gedacht waren, sondern als Übungsräume für die beteiligten Schauspieler, die in ihrem Rollenverständnis lernen sollten, ihre Gestalten nicht zu verkörpern, sondern zu zeigen.

 

Die 1920er Jahre waren übrigens auch die Zeit, in der die Arbeiterwohlfahrt von Marie Juchacz als integrierter Teil der Sozialdemokratischen Partei gegründet worden war. Sie sollte sich um Parteimitglieder kümmern, die von den menschenverachtenden Kämpfen des Ersten Weltkrieges außer Gefecht gesetzt oder deren Kinder durch Arbeitslosigkeit an den Rand gespült worden waren. Sie sollten Arbeit finden, durch Arbeit wieder Selbstbewusstsein gewinnen und sich erneut am Klassenkampf beteiligen können. Die AWO, wie sie sich heute nennt, war ein Teil der SPD, in der Frauen die Arbeit machten, ohne jedoch die allgemeine Politik bestimmen zu können. Sie zogen sich deshalb in ihrer freien Zeit nicht nur auf ihre Familien zurück, sondern mischten sich in die lokale Politik und Kultur vor Ort ein und förderten kulturelle Aktivitäten rund um ihren Ortsverein. Sie betreuten junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller, organisierten lokale Atelierbesuche und lasen sich aus ihren Tagebüchern und ihren Briefen vor. Und sie sangen in ihren Chören die neuen und die alten Lieder: „Mit uns zieht die neue Zeit“.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.


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