Atypische Beschäftigungsverhältnisse
Wie wird an deutschen Bühnen gearbeitet?
Dass sich die gewerkschaftlichen Strukturen an den Stadt- und Staatstheatern herausgebildet haben, ist kein Naturgesetz. Es bedurfte langer Entwicklungsgänge, bis ein tragfähiges Tarifvertragssystem geschaffen war. Voraussetzung dieser Tarifierung ist die gewerkschaftliche Organisation. Für Schauspielerinnen und Schauspieler bestand vor der Gründung der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) Handlungsbedarf, ihre Situation war mehr als das, was heute mit dem Wort „prekär“ beschrieben wird. Auch die Regierenden waren 1871 noch keineswegs davon überzeugt, dass Bühnenbeschäftigte als vollwertige Staatsbürgerinnen und -bürger anzusehen seien. Allerdings: Mehr als sprachliche Ähnlichkeit hatte die beim „Allgemeinen Deutschen Bühnen-Congreß“ frisch gegründete Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger mit sozialdemokratischen oder frühen gewerkschaftlichen Konferenzen kaum. Die GDBA-Gründer waren bürgerlich, ihnen ging es zunächst weniger um den Aufbau einer kampfbereiten Künstler-Organisation, als vielmehr um die Gleichberechtigung als Staatsbürger und die Gleichrangigkeit der Vertragspartner. Der „Engagementkontrakt“ wurde so über lange Zeit zur Hauptaktivität der GDBA – meist gegen den Bühnenverein, der den Beschäftigten an seinen Theatern Verträge quasi diktierte, die z. B schon für marginale Verstöße hohe Vertragsstrafen vorsahen. Im Januar 1919 schließlich hatten GDBA und Bühnenverein ihre Gespräche um einen Kollektivvertrag anstelle eines gescheiterten Theatergesetzes begonnen und Ende März lag ein unterschriftsreifer Vertrag vor. Gleichzeitig formierte sich auch Kritik: Der Regisseur Max Reinhardt und der Komponist Richard Strauß stellten sich an die Spitze einer Protestbewegung, die das Persönliche und gleichzeitig das allgemein „Ästhetische der Künstlernatur“ angesichts all der Sozialpolitik am Theater in Gefahr wähnte.
Die GDBA versuchte in späteren Jahrzehnten auch immer wieder, der Unterbeschäftigung beizukommen. Immer stärker drängte sie in den 1950er Jahren auf mehrjährige Verträge, um stabilere Ensembles zu schaffen und Fluktuation zu verhindern. Fernziel der Genossenschaft waren die gleichen Rechte, wie sie auch für Beschäftigte im öffentlichen Dienst galten. Der Bühnenverein und Teile der Presse reagierten empört auf angebliche „Verbeamtungspläne“ und „Bühnenkünstler mit Pensionsberechtigung“. Darum war es in Wirklichkeit natürlich nie gegangen. Letztlich diente das in der Theatergeschichte oft bemühte Bild von Künstlerinnen und Künstlern als entrückten genialischen Wesen als ideologische Begründung. Ein Kompromiss räumte den Streitpunkt letztlich aus dem Weg: Die Einkommen der Theaterbeschäftigten wurden seit 1956/57 sukzessive an die Steigerungen im öffentlichen Dienst angepasst. In den 1960er Jahren brachten die Mitbestimmungsdebatte und gesellschaftliche Reformbestrebungen auch für die GDBA neue Herausforderungen. An einzelnen Häusern wurden Ansätze von Mitbestimmung praktiziert, die später großflächig wieder rückgängig gemacht wurden. Zwar hatte es eine ganze Reihe von tarif- und arbeitsrechtlichen Fortschritten gegeben, aber viele brachen aus dem bürgerlichen Theatersystem aus und suchten nach Alternativen. Diese Entwicklung führte letztlich zur Entstehung der freien Szene und auch zum Anwachsen selbständiger Beschäftigungsverhältnisse.
Aufgrund der lange Jahre angespannten Haushaltslagen bei Ländern und Kommunen ist das Ensembletheater personell in den Jahrzehnten danach immer weiter ausgedünnt worden. Dem Gastvertrag kommt heute über die ergänzende Position hinaus eine das Ensemble stützende Funktion zu – in der Regel weiterhin als sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Allerdings: Der mit der Umsetzung der Agenda 2010 im Jahr 2003 einsetzende Transformationsprozess des Arbeitsmarkts verstärkte die Erosion des Arbeitnehmerstatus. Er wurde vielfach ersetzt durch „Soloselbständigkeit“. Unter Kulturschaffenden ist der Anteil der Selbständigen deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. Gerade in Corona-Zeiten dürfte der Wunsch nach Festanstellung aber steigen – nur lässt sich die Frage, ob das eine oder das andere grundsätzlich besser ist, nicht pauschal beantworten. Wer sich für einen Theaterberuf entscheidet, wählt oft auch ein bestimmtes Arbeits- und Lebensmodell. Aus den Entfaltungsmöglichkeiten entsteht die Attraktivität des Berufs.
Für viele Theaterschaffende waren atypische Beschäftigungsverhältnisse schon immer üblich. Trotzdem sind sehr unterschiedliche Fallkonstellationen und Beschäftigungsformen denkbar: Wer sich nicht in ein Festengagement begeben möchte, würde dort auch nicht glücklich werden – umgekehrt gilt das Gleiche. In anderen Fällen beruht eine freischaffende Tätigkeit nicht immer auf einer freiwilligen Entscheidung, manchmal dient sie der Überbrückung: Ziel bleibt eine Festanstellung. Und dann gibt es Berufe, z. B. im Bereich Regie, Choreografie oder Ausstattung, die ganz oder überwiegend nur selbständig möglich sind. Andere Tätigkeiten werden fast immer im festangestellten Ensemble ausgeübt. Hinzu kommen Gäste, denen im Arbeitnehmerstatus eine Reihe von Rechten zustehen und für die auch die Sozialversicherungspflicht gilt. Ob nun die eine oder andere Beschäftigungsart zu bevorzugen ist, lässt sich nicht pauschal sagen. Abhängige Beschäftigung bedeutet mehr Sicherheit für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Im Fall von Arbeitslosigkeit erhalten sie Arbeitslosengeld. In Krisenzeiten können die Unternehmen für ihre Beschäftigten Kurzarbeit beantragen und so Entlassungen vermeiden. Solche Sicherheit muss allerdings mit Weisungsgebundenheit erkauft werden. Selbständige Arbeit bedeutet oft Unsicherheit hinsichtlich der künftigen Auftragslage. Die Einkommen schwanken stark und Planungen unterliegen vielen Unsicherheitsfaktoren. Selbständige Arbeit bedeutet grundsätzlich unternehmerische Freiheit. Die selbständige Beschäftigung befreit aber vor allem die potenzielle Arbeitgeberseite von den Zwängen der Schutzvorschriften des Arbeitsrechts und der Sozialversicherung. Im Hinblick auf die Alterssicherung entstehen Lücken, die sich kaum noch schließen lassen. Die Coronakrise hat im Übrigen unter anderem auch deutlich werden lassen, wie rasch eine gesicherte selbständige Existenz ins Wanken geraten kann – fest eingeplante Einnahmen brechen komplett weg. Die Lebens- und Arbeitsverhältnisse Soloselbständiger ähneln denen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei Licht betrachtet jedoch oft viel mehr als denen „richtiger“ Unternehmer. Und: Der wiederholte Wechsel zwischen Arbeitnehmer- und Selbständigenstatus ist längst keine Ausnahme mehr.
Trotzdem bleibt das gewerkschaftliche Kerngeschäft der Abschluss von Tarifverträgen – und die beziehen sich zunächst auf Festangestellte. 2017 konnten die Künstlergewerkschaften auch Mindestgagen zunächst für gastierendes Solopersonal durchsetzen, zwei Jahre später auch für Gäste im Opernchor und in der Tanzgruppe. Gäste zunehmend auch in Tarifverträge einzubeziehen, ist dringend geboten: In den letzten 20 Jahren hat deren Zahl erheblich zugenommen, von ca. 8.500 auf zuletzt über 32.000. Jüngst ist das auch bei den coronabedingten Kurzarbeitstarifverträgen wieder gelungen.
Unabhängig davon, ob es um Festangestellte, Gäste mit Arbeitnehmerstatus oder Soloselbständige geht, gilt in der aktuellen Krise: Ohne kulturelle Infrastruktur wird es künftig keine Arbeitsmöglichkeiten für alle diese Gruppen geben.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.
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