Harald Schmid - 29. November 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

16 Jahre: CDU-Kulturpolitik

Mühen der Ebene


Zur Erinnerungskultur und Gedenkstättenpolitik

Kulturpolitik war schon immer auch Geschichtspolitik – auch durch programmatische Auslassungen. Als der Deutsche Bundestag am 22. November 2005 Angela Merkel zur Bundeskanzlerin wählte, sah die Republik erinnerungskulturell in mancherlei Hinsicht noch anders aus. Im Koalitionsvertrag des ersten Merkel-Kabinetts, der bis 2009 amtierenden Regierung aus CDU/CSU und SPD, spiegelte sich dies. Hier taucht der Begriff Erinnerung“ nur einmal im Kontext der Erwähnung der Vertreibung auf, Gedenken“ überhaupt nicht. Der Nationalsozialismus wird nirgends explizit erwähnt, einmal die beiden Diktaturenin Deutschland, zweimal Gewaltherrschaftund viermal SED-Diktatur. Im Koalitionsvertrag der ab 2013, nach dem schwarz-gelben Intermezzo, nun wieder von den Fraktionen von CDU/CSU und SPD getragenen dritten Merkel-Regierung hat sich der programmatische Horizont erkennbar verändert: In einem zweiseitigen Unterkapitel Gedenken und Erinnern, kulturelles Erbe und Baukulturwird dieses Handlungsfeld erstmals in der Geschichte der Bundesregierungen eigens skizziert, auch die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und den Widerstand gegen das NS-Regimehat nun seinen Platz. 

 

Welche geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Initiativen, Projekte, Debatten oder Leistungen werden von der Ära Merkel bleiben – und welches Scheitern? Eine geschichtspolitische Bilanz müsste weitaus breiter ansetzen, als es auf begrenztem Raum möglich ist: Umgang mit NS-(Raub)Kunst, Israelpolitik, Antisemitismus, Etablierung des 20. Juni als Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, das 2021 in Berlin eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Auflösung der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und Überführung ins Bundesarchiv, Rückgabe kolonialer Raubgüter. 

 

Betrachten wir das Feld der Gedenkstättenpolitik etwas genauer. Nach langen und teilweise scharfen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um die politische Gewichtung von Gedenkstätten zur Erinnerung an die NS-Verbrechen und jener Einrichtungen zum SED-Unrecht verabschiedete der Bundestag 2008 die fortgeschriebene Gedenkstättenkonzeption des Bundes (aufbauend auf der Erstfassung von 1999). Sie hat sich als integrierendes Förder- und Steuerinstrument erwiesen. Seither hat die Gedenkstättenpolitik der Bundesregierung eine verlässliche Grundlage, auch Identitäts- und Verteilungskämpfe um geschichtspolitische Hierarchien zwischen beiden Diktaturvergangenheiten sind in den Hintergrund öffentlicher Debatten getreten. Die großen, vom Bund auf dieser Basis institutionell anteilig geförderten Gedenkstätten zur Erinnerung an die NS-Verbrechen (ab 2009 wurden auch die in den alten Bundesländern gelegenen KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen, Dachau, Flossenbürg und Neuengamme einbezogen) haben seither eine weitaus bessere Grundfinanzierung und Planbarkeit ihrer Arbeit, zahlreiche Projekte wurden bei gegebener Komplementärfinanzierung durch die Bundesländer auch in kleineren Einrichtungen gefördert. 

 

Allerdings haben sich inzwischen auch die Grenzen der Konzeption gezeigt. Denn die vielen kleinen und mittelgroßen, meist nur regional bekannten Einrichtungen – man denke etwa an die Gedenkstätten in Alt Rehse, Bisingen, Gardelegen, Lemgo oder in Ladelund – stehen in dieser Förderpolitik erkennbar am Rande, falls sie überhaupt einbezogen werden. Der Verband der Gedenkstätten in Deutschland/FORUM (VGDF) hat hier einen seiner Arbeitsschwerpunkte. 

 

So hat der VGDF zur Bundestagswahl 2021 drei Kernforderungen an die künftige Bundesregierung formuliert: die Evaluation und Weiterentwicklung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die Fortsetzung des Förderprogramms Jugend erinnert“ sowie der Ausbau der zentralen Vernetzungsstrukturen insbesondere des Gedenkstättenreferats in der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin. Dringlich ist auch die Förderung von Grundlagenforschung und Digitalisierung. Diese besonderen außerschulischen Bildungsorte brauchen so seriöse wie attraktive, so aktuelle wie nachhaltige Denk- und Lernangebote zur Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch und der Verdrängungs- und Aufarbeitungsgeschichte nach 1945. Dabei dreht sich der Umbruch in den Gedenkstätten nicht zuletzt um tragfähige Antworten auf das Verstummen der Zeitzeugen. 

 

Das Förderprogramm Jugend erinnert“ darf als ein gelungener Schritt der Merkel-Scholz-Regierung gelten. 2019 ausgeschrieben und seit 2020 umgesetzt, werden damit an Dutzenden Gedenkstätten, Dokumentations- und Erinnerungsorten innovative neue Bildungsangebote für unterschiedliche Zielgruppen wie Migrantinnen und Migranten, Studierende und Azubis entwickelt. Das in zwei Förderbereichen geteilte – NS-Geschichte und SED-/DDR-Geschichte – und über drei Institutionen verwaltete Programm – BKM, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und Auswärtiges Amt – hat es den betreffenden Einrichtungen erstmals ermöglicht, die Projektmittel direkt beim Bund zu beantragen. In vielfältiger Weise haben die Projekte eine Dynamik in der erinnerungskulturellen Bildungslandschaft entfacht, die eine Fortsetzung des Förderprogramms als unbedingt wünschenswert erscheinen lässt.  

 

Manches wie dieses Förderprogramm wurde während der Ära Merkel möglich infolge des gewachsenen Konsenses der demokratischen Parteien in Sachen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Insofern erscheinen auch alle weiteren gedenkstättenpolitischen Schritte als Mühen der Ebene, um die aufgebaute Infrastruktur des negativen Gedächtnisses“ an vielen historischen Orten der nationalsozialistischen Verfolgung zu sichern. Denn viele Entwicklungen der letzten Jahre – Projekte, Personalstellen – sind zeitlich befristet. Auch bedürfen bestimmte gesellschaftliche Herausforderungen wie Rechtspopulismus und -terrorismus, Rassismus und Antisemitismus der Begleitung durch kreative Bildungsangebote der Gedenkstätten, die längst eine verlässliche Stimme in der politischen Kultur dieser Republik und täglicher Kooperationspartner etwa für Schulen, Vereine, Initiativen, Parteien und Kirchen sind. 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.


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