Die Parameter der Schieflage sind offenbar
Die Erwartungen von Künstlerinnen und Künstlern an die künftige Regierung
Nach oben noch viel frische Luft … so könnte das Fazit über die Kulturpolitik der Ära Merkel lauten. Kultur war nicht gerade ein Thema für angewandte Richtlinienkompetenz. Von manchen vermisst wurde eine Impuls gebende Rede zur Kultur. Längst müsste die Kultur ein eigenständiges Ressort sein, schon um einer Mitsprache bei relevanten Gesetzesvorhaben willen. Nominal war aber der Aufwuchs der Kulturförderung in der staatsministerlichen Abteilung des Kanzleramts nicht schlecht gesichert. Angela Merkel sorgte mit dafür, dass sich die beiden Beauftragten für Kultur und Medien dieser Zeit stets einen deutlichen Etataufwuchs auf die Fahnen schreiben konnten. Kulturstaatsminister Bernd Neumann und Kulturstaatsministerin Monika Grütters standen für eine pragmatische Kulturförderung: Bernd Neumann als bestens vernetzter Mann der Verwaltung und des Haushalts mit Faible für die Sparte Film, Monika Grütters mit profunder Kunst- und Kulturexpertise, die nicht nur Amt und Etat weiter vergrößerte, sondern auch einige Brocken zu stemmen hatte.
Dabei war die öffentliche Erwartung gegenüber Künstlerinnen und Künstlern groß: Diese „leisten mit ihrer Arbeit einen unersetzbaren Beitrag zum Selbstverständnis und zur Wertedebatte in einer demokratischen und pluralen Gesellschaft„. Dieses Zitat könnte aus der letzten Debatte zu Coronahilfen oder NEUSTART KULTUR stammen – es steht aber im Bericht der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ aus dem Jahr 2007 zu „Künstlerbild und Kreativität Anfang des 21. Jahrhunderts„. Weiter heißt es dort: „Mit ihren ›Angeboten‹ zur gesellschaftlichen Selbstvergewisserung – und das meint auch die von Künstlern entwickelten Verweigerungs-, Destruktions-, Chaotisierungs– und Reduktionstrategien agieren sie in einem komplexen gesellschaftlichen Handlungsrahmen (Staat, Markt, Zivilgesellschaft). Ihre Arbeiten sind nicht allein nach den Maßgaben von Effizienz, Produktion oder Einschaltquoten zu bewerten. Aus diesen strukturellen Nachteilen ergibt sich die Notwendigkeit staatlicher Verantwortung.“ (Drucksache 16/7000, 4.1, S. 229)
Der Enquete-Bericht enthält viele gute Handlungsempfehlungen zur sozialen Sicherung von Künstlerinnen und Künstlern, zur Kulturförderpolitik, zum Urheberrecht, zur kulturellen Bildung. Zwei Jahre später hat der BBK Bundesverband in seinem Symposion „Mit besten Empfehlungen“ die Umsetzung betrachtet – mit ernüchternder Bilanz. Der damalige BBK-Vorsitzende Werner Schaub forderte unter anderem einen „Nothilfeplan für kommunale Kultureinrichtungen“ und Wertschätzung der kulturellen Bildung für Kinder und Jugendliche. Letztere kam 2013 – allerdings nicht durch die Kulturstaatsministerin, sondern das Bildungsministerium mit dem Förderprogramm „Kultur macht stark„, das nun im Jahr 2022 in die 3. Förderphase übergehen wird. Zur kulturellen Teilhabegerechtigkeit und künftiger Kunst- und Kulturwertschätzung tragen viele professionelle Bildende Künstlerinnen und Künstler bei.
Bitter war jedoch – auch für die Künstlerinnen und Künstler – die Einführung des Regel-Umsatzsteuersatzes für den Kunsthandel im Jahr 2012 aufgrund einer EU-Vorgabe. Eine vom Bund vorgeschlagene Kompensationslösung lehnten die Bundesländer ab.
Glücklicherweise konnten Angriffe auf die Künstlersozialkasse (KSK) in der Ära Merkel stets abgewehrt werden, manche Attacke aus liberalen Kreisen ist keineswegs vergessen. Die KSK ist und bleibt zentrales Fundament einer sozialen Sicherung von Künstler:innen – sie gilt es zu schützen gegen jedes marktfixierte Geschwätz. Reform heißt hier daher Stärkung durch eine der Lebensrealität angepasste Sicherung von Künstlerinnen und Künstler, wie es z. B. mit der Erhöhung der Zuverdienstgrenze anlässlich der 4. Corona-Welle geschehen ist.
Überhaupt das künstlerische Einkommen: Die regelmäßig konstatierte Einkommensschwäche Bildender Künstlerinnen und Künstler blieb über die 16 Merkel-Jahre unverändert erhalten, ebenso der Gender Pay Gap. Aber erst in der Pandemie wird sie als Schieflage erkannt. Dass Selbständige bei den Coronahilfen des Wirtschaftsministeriums nur reine Betriebskosten und keinen „fiktiven Unternehmerlohn“ beantragen konnten, traf auch die Künstlerinnen und Künstler hart.
Die Parameter der Schieflage sind jetzt offenbar. Aus ihnen leiten sich die Erwartungen Bildender Künstlerinnen und Künstler an die künftige Regierung ab:
- faire Vergütung aller künstlerischen Leistungen, unter anderem durch die Verankerung von Ausstellungsvergütung in allen Förderrichtlinien der öffentlichen Hand,
- eine realitätstaugliche soziale Sicherung für Soloselbständige im Berufsleben und im Alter, z. B. durch eine im Mindesteinkommen angepasste Grundrente,
- Geschlechtergerechtigkeit statt Gender Pay Gap und Gender Show Gap, unter anderem durch die Wiedervergabe des Gabriele Münter Preises
- fiskalische Kulturförderung durch einen Steuerfreibetrag für Kunst und Kultur bis 20.000 Euro auch für private untere und mittlere Einkommen und Wiedereinführung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für den Kunsthandel.
Die von Kulturstaatsministerin Monika Grütters erkämpften zwei Milliarden für NEUSTART KULTUR waren bedeutend, nicht nur wegen des für Kulturverhältnisse atemberaubenden Betrags, sondern auch wegen ihres Muts, für die Vergabe die Fachverbände einzubeziehen, um die Künstlerinnen und Künstler, die Kulturakteure direkt zu erreichen – ein echtes Zukunftsmodell.
Mit Ungeduld sehen wir jedenfalls den Vereinbarungen der Koalitionäre und den Gesprächen mit ihnen darüber entgegen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.
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