Ludwig Greven - 29. April 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Eine neue Stunde null?


Eine bessere Welt – nach der Pandemie?

Zu Beginn von Corona gab es etliche schiefe historische Vergleiche. Die Kanzlerin sprach von der schlimmsten Krise seit 1945, auch andere bemühten das Bild einer Weltkatastrophe. Sicherlich, die globale Seuche und ihre Folgen treffen mehr noch als der Erste und Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg die gesamte Menschheit. Millionen sind schon gestorben oder schwer erkrankt, die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben liegen in vielen Ländern darnieder. Dennoch ist das, was wir derzeit erleben, mit der Situation vor 76 Jahren und mit der Hochzeit des Kalten Krieges, als der Menschheit tatsächlich die Vernichtung im atomaren Feuer drohte, nicht vergleichbar. Im Mai 1945 lag ganz Europa in Trümmern, andere Teile der Erde ebenso, 60 Millionen Menschen waren ums Leben gekommen und von den Nazis getötet worden in einem nie dagewesenen, einzigartigen Völkermord an den Juden und der jüdischen Kultur Europas. Ausgelöscht schien damit auch das, was einst die deutsche Kultur mit großer Strahlkraft ausgemacht hatte. Die Welt stand still. Erst recht nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki.

 

Und doch keimte an diesem Tief- und Wendepunkt der Geschichte sogleich Hoffnung auf. Hoffnung auf eine andere, bessere Welt ohne Hass und Gewalt, Kriege, Zerstörung, Ausbeutung und Not. Hatte nicht eine globale Allianz das Reich der Unfreiheit und des absolut Bösen besiegt? Während zahllose Überlebende durch die Trümmer auch ihres Lebens taumelten und um ihre Männer, Söhne, Väter, Frauen und Kinder trauerten, andere in Osteuropa bald um den neuerlichen Verlust ihrer Freiheit, machten sich Engagierte daran, die Träume, die sie zum Teil schon während des Kriegs, im Widerstand, in den KZs, im Exil ersonnen hatten, in die Tat umzusetzen. In San Francisco wurden die Vereinten Nationen geboren. In Deutschland, dem, was davon übrig geblieben war, gründeten sich neue Parteien und Gewerkschaften und alte wieder, es wurden Pläne und Programme geschmiedet für ein neues demokratisches, freiheitliches, soziales Gemeinwesen. Künstler, Schriftsteller und andere Emigranten kehrten aus dem Exil zurück. Die ersten Bühnen entstanden wieder, meist improvisiert, wie etwa das Kom(m)ödchen in meiner Heimatstadt Düsseldorf. Kunstwerke, die unter den Nazis als entartet galten, konnten wieder gezeigt und Musik und Theaterstücke gespielt werden, die im Dritten Reich verfemt waren. Es wurde wieder gesungen, getanzt und gelacht. Der Himmel und die Zukunft schienen offen inmitten des Elends.

 

Doch die Träume einer völlig anderen Ordnung der Welt verflogen rasch. In den Westzonen und der Bundesrepublik kehrten nach dem baldigen Ende der Entnazifizierung viele, die schon vor und während des Dritten Reichs Macht gehabt hatten, an die Schalthebel zurück. In der DDR entstand eine neue, diesmal rote Diktatur, ebenfalls mit Beteiligung etlicher Nazis. Die wachsende Blockkonfrontation machte alle Hoffnungen auf dauerhaften Frieden zunichte. Und doch wurde zumindest im Westen des geteilten Landes die Basis gelegt für eine demokratische Gesellschaft und einen sozialeren Kapitalismus. Und mit der Montanunion die Wurzel der Europäischen Union.

 

1989/90 schien dann eine neue Stunde null gekommen, nicht nur für die Menschen im Osten. In der untergehenden DDR und den Ländern Mittel- und Osteuropas träumten Oppositionelle und Künstler nach den friedlichen Revolutionen und dem Zusammenbruch des Kommunismus wieder von einer besseren Welt und einer gerechteren Gesellschaft, manche auch im Westen. Der Eiserne Vorhang fiel, die Teilung Europas und der Welt war vorbei. Erneut schien ein dauerhafter Frieden zum Greifen nah, die Demokratie hatte offensichtlich die Oberhand. Aber auch dieser Traum zerstob, spätestens mit 9/11, dem Angriff auf das World Trade Center. Erneut schien die Welt im Krieg, diesmal mit einem globalen islamistischen Terror. Und bald darauf zeichnete sich eine weitere, noch größere globale Konfrontation ab, mit den aggressiven totalitären Regimen in Russland, China und weiteren Ländern, und mit autoritären, nationalistischen, populistischen Bewegungen in vielen der demokratischen Nationen.

 

Gibt die Coronakrise Anlass zu neuerlicher Hoffnung, dass nach ihrem Ende sich die Welt anders, besser ordnen wird? Das Bild ist wie in der Nachkriegszeit und nach der historischen Wende 1989/90 gemischt: Forscher, Mediziner und Regierungen arbeiten auf der einen Seite weltweit eng zusammen, um die Pandemie mit geeinten Kräften zu besiegen oder zumindest in den Griff zu bekommen, mit in Eiltempo entwickelten Impfstoffen und nie gekannten Schutzmaßnahmen. Abermillionen auf der ganzen Welt nehmen schwerste Einschränkungen ihres Lebens in Kauf, um sich und andere, vor allem die Schwächsten, Alte, Kranke, zu schützen. Ein beispielloser Akt gegenseitiger Hilfe und Solidarität.

 

Auf der anderen Seite sehen wir einen Wettlauf um die Vakzine, Tests und Schutzausrüstungen, bei dem Schwache und Arme auf der Strecke bleiben, national wie international. Staaten und selbst Regionen schotten sich gegenseitig ab. Regierende versagen auch in Deutschland vor dieser gewaltigen Herausforderung. Von der verheerenden Ignoranz des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump oder seines brasilianischen Bruders im Ungeiste, Jair Bolsonaro, nicht zu reden. Diese Krise legt schonungslos offen, was schon vorher schieflief und was an gesundheitlicher, technischer und politischer Vorsorge fehlte und fehlt. Die Pandemie hat die nationale und globale Ungleichheit verstärkt und die Reichsten – darunter Online-Großmilliardäre wie Amazon-Chef Jeff Bezos, aber auch chinesische – noch reicher und Arme noch ärmer gemacht. Unter den Folgen leiden vor allem die, denen es schon vorher schlecht ging. Und zu viele halten sich aus Eigensinn nicht an die solidarischen Schutzauflagen. „Die Pandemie hat das Beste, aber auch das Schlechteste der Menschheit zum Vorschein gebracht“, sagt WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus.

 

Die bittere Ironie ist, dass die Pandemie ausgerechnet die kommunistischen Diktatoren in China, woher das Virus kam, mit ihren staatskapitalistischen Konzernen stärkt, ökonomisch wie politisch. Auch in anderen Ländern triumphieren autoritäre Führer, weil sie vermeintlich energischer auf die Bedrohung reagieren als zaudernde Demokraten. In ihrem Gefolge wächst in den liberalen Ländern die Sehnsucht nach starken Führungsgestalten. Die hohen Zustimmungswerte für den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder zeugen davon. Im Schatten der Krise gehen zudem andere Konflikte und Kriege weiter: in Syrien, in Jemen, in der Ukraine, der Putin erneut mit Einmarsch droht, und damit dem gesamten Westen.

 

Aus all diesen Gründen spricht wenig dafür, dass die Welt nach Corona eine andere, bessere sein wird. Und doch gilt es, die positiven Zeichen und Ansätze zu nutzen und weiterzuentwickeln, wenn es um die noch größere globale Herausforderung geht, den Klimawandel: die Bereitschaft zur nationalen und weltweiten Solidarität, zur Umstellung des eigenen Lebens, zu weniger Ausbeutung der Natur und des Menschen, auch zur Wertschätzung der Kultur, die so viele so schmerzhaft vermissen. Wenn davon nur ein wenig erhalten bliebe, wäre schon viel gewonnen.

 

Hoffnung geben besonders die USA, die lange Zeit am stärksten unter der Pandemie und dem politischen Versagen litten. Joe Biden, ein alter weiser Mann, gewählt gegen die verkörperte Unvernunft in Gestalt von Donald Trump, hat in Windeseile all das umgekehrt, was dieser angerichtet hatte. Er ist dabei, die Nation, die so lange Bannerträgerin der Demokratie und der Freiheit war, wieder zu einen und wieder zum Vorbild für die Welt zu machen. Er macht Mut, den Amerikanern, aber auch uns zerstrittenen Europäern. Geschichte kann gemacht werden, auch ohne Revolutionen, ohne überschießende Träume: mit dem Stimmzettel, mit vereinten Kräften.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.


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