Ein Teufelskreis
Umfangreiche Hilfen für die Filmwirtschaft: Der Neustart der Kinos ist dennoch nicht geglückt
Die Filmtheater hatten zur Wiedereröffnung große Hoffnungen auf den Familienfilm „Trolls World Tour“ gesetzt. Doch der Animationsfilm lief im Mai statt in den weltweiten Kinos auf mehreren Streamingplattformen. Wegen der geschlossenen Kinos in den USA und vielen anderen Ländern hat Universal den Versuch gestartet, „Trolls World Tour“ als erste Studioproduktion überhaupt direkt als Download anzubieten. Binnen drei Wochen hat der Film Universal Pictures mehr Umsatz beschert als der Vorgänger, der fünf Monate in den US-Kinos zu sehen war. Dieser große Streaming-Erfolg könnte eine Zäsur für die Unterhaltungsindustrie darstellen. Das Unternehmen kündigte bereits an, nach überstandener Krise weitere Filme parallel zum Kinostart in Streamingdiensten anbieten zu wollen. Universal ist nicht der einzige US-Studioproduzent, der Pläne für die Online-Verwertung getestet hat. Sony, Warner Brothers und Marktgigant Disney folgten schnell. Mit seiner neuen Streaming-Plattform Disney+ hat das Unternehmen ausgezeichnete Möglichkeiten, die Filme über einen eigenen Kanal zu veröffentlichen. So wird der Mega-Blockbuster „Mulan“, nachdem der Kinostart immer wieder verschoben wurde, im September bei Disney+ starten. Für die ohnehin bereits angeschlagenen Kinobetreiber könnte ein Machtkampf mit den Produktionsfirmen gefährlich werden. Denn mit der Schwächung der Kinos werden gleichzeitig die Streamingdienste gestärkt. Auch wenn Blockbuster wohl weiterhin auf der großen Leinwand zu sehen sein werden, scheint die Zeit, dass Kinofilme vor allem für das Kino produziert werden, vorbei. „Die Giganten des Streamingmarkts brechen mit den Traditionen Hollywoods“, erläutert Gabriel Mohr von der Strategieberatung Arthur D. Little. Verbraucherumfragen zeigten zudem, dass nur noch 20 Prozent der Menschen einen Film zum ersten Mal auf der Kinoleinwand sehen wollten, betont der Medienexperte.
Hollywood-Studios verschieben Filmstarts und stellen Kinofilme auf Streaming-Plattformen
Es fehlt nicht an zugkräftigen Filmen, es fehlt an der Bereitschaft, diese jetzt in die Kinos zu bringen. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Filmen, die schon fertig sind und nur auf einen neuen Starttermin warten. So sollen alle geplanten Filme der Reihen „Star Wars“ und „Avatar“ je um ein Jahr verschoben werden. Tom Cruises „Top Gun: Maverick“ wird nicht im Dezember, sondern erst im Juli 2021 erscheinen, und die Comic-Verfilmung „Black Widow“ mit Scarlett Johansson wurde in den Herbst gelegt. Auch der Start von „Tenet“, einem Blockbuster, unter anderem mit John David Washington, Robert Pattinson und Michael Caine wurde immer wieder verschoben. Das Problem: Mindestens 80 Prozent der Kinos weltweit müssten öffnen, damit beispielsweise der Film „Tenet“, der 200 Millionen Dollar gekostet hat, seine Kosten wieder einspielen kann. Das ist aber noch lange nicht in Sicht.
Brandbriefe und Appelle der Kinobetreiber an die Politik, deutsche Produzenten und Verleiher
Es sind aber nicht nur die amerikanischen Filme, die den Kinos fehlen, sondern auch zugkräftige deutsche Produktionen: Constantin Film, einer der erfolgreichsten deutschen Produzenten folgt dem Hollywood-Beispiel: Das Remake „Black Beauty“, für das Kino produziert, soll Ende des Jahres bei Disney+ laufen und zahlreiche zuschauerattraktive Filme wie „Ostwind – Der große Orkan“, „After Truth“, „Kaiserschmarrndrama“ oder „Contra“ wurden in den Herbst oder das nächste Jahr verschoben.
In einem offenen Brandbrief hat sich Kim Ludolf Koch, Geschäftsführer der mittelständischen Kinokette Cineplex, Mitte Juli an Martin Moszkowicz, den Vorstandsvorsitzenden der Constantin Film AG, gewandt und bat „den wichtigsten Partner großer deutscher Filme“ um Unterstützung und die Branche in dieser schweren Zeit nicht im Stich zu lassen. „Wer hätte gedacht“, so Koch, „dass die Zeit, in der alle Kinos in Deutschland wieder spielen dürfen, grausamer wird als die Zeit der Schließung.“ Doch der außergewöhnliche Appell verhallte ohne Wirkung. Deshalb hat Christine Berg, Vorstandsvorsitzende des HDF KINO, am 7. August erneut eindringlich zur Solidarität der Filmbranche aufgerufen: „Gemeinsam Handeln anstatt Alleingang“, ist ihre Forderung. „Die jüngsten Ereignisse rund um die Distribution von Filmen und das Umgehen einer Auswertung im Kino zeigen: Hier wird ein Spiel mit dem Feuer getrieben und in dieser unverschuldeten Krise ein bewährtes sowie erfolgreiches Geschäftsmodell außer Kraft gesetzt. Wenn große, tolle Filme, die für die Leinwand gemacht sind, nicht auch dort gezeigt werden, bleiben die vorhandenen Marktmöglichkeiten ungenutzt“, erklärt Berg. Sollten die Partner der deutschen Kinos auf eine kurzfristig motivierte Verschiebe- und Ausweichtaktik setzen, spielten sie nicht nur mit der Zukunft der Filmtheater, sondern auch mit der Vielfalt und Unabhängigkeit der gesamten Branche. Der deutsche Kinomittelstand sieht sich, wie er in einem Schreiben an Kulturstaatsministerin Monika Grütters Mitte August betont, in seiner Existenz bedroht. Deshalb fordern die Filmtheater kurzfristig weitere Hilfen und einen Kinogipfel. Neben dem Mangel an attraktiven Filmen belasten auch die Abstandsregeln die Kinos. Nach den gegenwärtigen Hygieneregeln dürfen nur ein Drittel bis ein Viertel der Plätze besetzt werden. Ein auskömmliches Wirtschaften kann es unter diesen Bedingungen nicht geben. „Die Corona-Abstandsregel von 1,50 Meter ist ein Problem, weil die Säle zu großen Teilen leer bleiben müssen“, stellte auch Monika Grütters fest. Grütters wiederholt damit ihre bislang nicht umgesetzte Forderung nach Abstandsregeln für Kinos von einem Meter. So könnte – wie das bereits andernorts praktiziert wird – z. B. jede Reihe versetzt gefüllt werden. Doch darüber entscheiden die Bundesländer. Dort gebe es bisher unterschiedliche Vorgaben – mal gibt es eine Begrenzung der Personenzahl, mal eine Maskenpflicht auch im Saal.
Obwohl die Kinos nach monatelangen Schließungen bundesweit wieder geöffnet haben, ist die Krise für sie längst nicht vorbei. „Wenn unsere Auslastungsmöglichkeiten durch die Abstandsregelungen auf dem Niveau bleiben und die publikumsstarken Filme dadurch weiter fehlen, werden wir einen erheblichen Anteil der Kinos verlieren“, so die düstere Prognose von Christine Berg.
Rettungsprogramm für die Filmwirtschaft
Die Bundesregierung hat im Juli ein Rettungs- und Zukunftsprogramm für den Filmbereich mit 160 Millionen Euro gestartet, um die wirtschaftlichen Verluste durch die Corona-Pandemie teilweise auszugleichen. Zugute kommen die Mittel den Kinos, aber auch ein Mehrbedarf bei Produktion und Verleih werden finanziert. In Ergänzung zum laufenden Zukunftsprogramm Kino wurde zudem ein weiteres investives Förderprogramm für den Kinosektor in Höhe von insgesamt 40 Millionen Euro aufgesetzt. Zusammen mit den 17 Millionen Euro aus dem Zukunftsfonds Kino, 15 Millionen Euro Unterstützung von den Fördereinrichtungen und Sonderprogrammen einiger Bundesländer wie Bayern, Hamburg oder NRW stehen der Filmwirtschaft annähernd 250 Millionen Euro für einen Neustart zur Verfügung. Finanzielle Unterstützung für unterbrochene Dreharbeiten bei Fernsehproduktionen leisten auch die öffentlich-rechtlichen Sender, RTL sowie ProSiebenSat.1. Dazu kommen die Mittel aus dem Corona-Hilfspaket für die Wirtschaft, von dem Kinos, Filmproduzenten, Verleiher, Drehbuchautoren, Kameraleute etc. allerdings nur bedingt profitieren, da die Unternehmen zum großen Teil weniger als zehn Mitarbeiter beschäftigen, diese oft nur Teilzeit arbeiten und zudem viele Fachkräfte wie Regisseure, Komponisten oder Autoren freiberuflich tätig sind. Das bedeutete z. B. für die 1.734 Kinos, die seit Mitte März geschlossen waren, kein Kurzarbeitergeld für 60 Prozent der Beschäftigten, da hier zu einem großen Teil Studenten und Minijobber tätig sind, und keine Zuschüsse vom Bund für knapp die Hälfte der Betriebe.
Ausfallfonds: das wichtigste Thema für die Filmwirtschaft
Die Filmbranche hat aber nicht nur mit einem erhöhten Aufwand durch die Hygienebestimmungen bei laufenden Produktionen fertigzuwerden, sondern muss sich weiterhin sorgen, dass es zu neuen Zwangspausen bei Spiel- und Fernsehfilmproduktionen kommt. Bis Mitte Mai hatte die Branche laut Erhebungen der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) mehr als 400 Drehabbrüche, Unterbrechungen oder Verschiebungen in Höhe eines Investitionsvolumens von ca. einer halben Milliarde Euro zu verzeichnen. Für die höheren Kosten, die den Produzenten dadurch entstanden sind, kamen bisher zum Teil die Filmförderer der Länder oder die Fernsehsender auf. Allerdings sind diese Hilfen befristet, zumeist bis Ende August oder Anfang September. Angesichts der großen finanziellen Risiken, dass durch eine Corona-Infektion Produktionen erneut unterbrochen oder beendet werden müssen, zögern Produzenten ihre geplanten und teilweise auch geförderten Projekte hinaus. Die Filmwirtschaft ist deshalb auf ein Sicherungssystem angewiesen, damit existenzbedrohende Ausfallrisiken durch Covid-19 nicht allein Produktionsunternehmen schultern müssen, und Finanzierungspartner wieder bereit sind, Zwischenfinanzierungen zur Verfügung zu stellen. Sogenannte Pandemieschäden werden von Versicherungen nicht gedeckt, weshalb damit verbundene Kosten die Produktionsunternehmen voll treffen würden. Die Filmwirtschaft fordert deshalb seit Monaten einen Ausfallfonds, wie er heute bereits in Österreich, Frankreich, Kanada, Großbritannien oder Australien existiert. In Österreich können die Ausfallzuschüsse pro Produktion bis zu 75 Prozent der Herstellungskosten betragen. Für Christoph Palmer, Geschäftsführer der Produzentenallianz, ist der Ausfallfonds gegenwärtig das wichtigste Thema der Filmwirtschaft, damit die Produktion wieder voll anlaufen kann. So verweisen aktuell 39 Verbände und Organisationen der Film- und Fernsehbranche auf eine „massive Gefährdung der Wirtschaftskraft der deutschen Film- und Fernsehindustrie – sowie eine existenzielle Bedrohung für die ohnehin von den Corona-Folgen stark betroffenen Produzenten, Distributoren und anderen Film-und Fernsehschaffenden“.
Das Rettungspaket NEUSTART KULTUR sieht 50 Millionen Euro für einen solchen Ausfallfonds vor. Nach den Vorstellungen von Monika Grütters liegt der Fokus des Ausfallfonds auf kleinen und mittelständischen selbständigen Produktionsunternehmen. Bei der Festlegung der Schadenssumme sollen externe Versicherungsexperten eingebunden werden, um eine „professionelle Schadensabwicklung und damit größtmögliche Schadensminderung“ sicherzustellen. So hofft man, die meisten der rund 150 vom Ausfallfonds möglicherweise betroffenen Produktionen im Kinofilm- und Serienbereich im Jahr abzudecken.
Mit diesem Fondsmodell des Bundes wird jedoch nur eine sehr begrenzte Zahl von Produktionen abgesichert, und die Erwartungen der Filmwirtschaft nach einem umfassenden Risikoschutz werden nicht erfüllt. Denn der 50-Millionen-Euro-Ausfallfonds greift nur bei Kino- und High-End-Serienproduktionen, die vom Bund oder der FFA gefördert worden sind. Für eine Absicherung von Fernsehproduktionen oder Kinofilmen, die nicht darunterfallen, sind aufgrund unserer föderalen Struktur die Länder und TV-Sender zuständig. Die für das deutsche Fernsehen bestimmten Auftragsproduktionen machen mit jährlich rund 12.500 Programmstunden fast 80 Prozent des Produktionsvolumens aus. Um alle Produktionsbereiche abzusichern und eine „solidarische Risikoabfederung“ zu ermöglichen, regt die Kulturstaatministerin deshalb ein Drei-Säulen-Modell an: Der Bund würde einen wesentlichen Teil des Risikos im Kinofilmbereich sowie bei hochwertigen Serienproduktionen absichern. Die Länder sollten zusätzlich das Risiko der TV- und Kinofilm-Produktionen abfedern, die sie gefördert haben. Die Sender wie auch die Plattformen sollten das Risiko für ihre Eigenproduktionen selbst und umfassend tragen.
Nach Vorstellungen der Produzenten soll dieser zweite Ausfallfonds ebenfalls ein Volumen von 50 Millionen Euro haben. Doch bisher können sich die Sender, wenn überhaupt, nur einen minimalen Zuschuss vorstellen, und von den Ländern haben bisher nur Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen zugesagt, einen Ausfallfonds mitzufinanzieren. Die Staatskanzleien der Bundesländer befinden sich aber gegenwärtig zusammen mit den TV-Sendergruppen in der Diskussion, um doch noch einen weiteren Sicherungsfonds auf den Weg zu bringen.
Die derzeitige Situation sei besser, als im Frühjahr zu befürchten war, viele Produktionen seien wieder angelaufen, betonte der ARD-Programmdirektor Anfang August in Bezug auf neue sendebereite Fernsehfilme und Serien. Die Produzenten hätten „einen richtig guten Job gemacht“, lobt Volker Herres. Bei den anderen TV-Gruppen sieht es ähnlich aus, auch sie müssen weniger wiederholen als ursprünglich geplant. In diese Lobeshymne auf die Produzenten können die Kinos nicht einstimmen. Sie hatten auf einen kraftvollen Neustart gehofft und wurden mehrfach enttäuscht: Von der Landespolitik, die auf unflexiblen Vorschriften beharrt, und von Produzenten, die trotz großzügiger finanzieller Förderungen längst fertiggestellte Kinofilme einlagern oder an Streaming-Plattformen verkaufen. Selbstverständlich muss ein Produzent wirtschaftlich rechnen und benötigt eine bestimmte Anzahl von Zuschauern, um seinen Film zu refinanzieren. Doch das Risiko einer wieder zum Leben erwachenden Spielfilmkultur darf nicht den Kinos allein überlassen werden. Auch die Produzenten müssen im eigenen Interesse hier mehr Mut zeigen, abgefedert durch einen Ausfallfonds. Ein Fehlstart der Kinos – und danach sieht es jetzt aus – schadet der deutschen Filmwirtschaft kulturell und wirtschaftlich langfristig. Ohne gute Filme kein Neustart der Kinos, und ohne gut besuchte Filmtheater keine erfolgreiche Verwertung der für das Kino produzierten Filme. Es ist ein Teufelskreis!
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.
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