Kulturpolitik muss kräftig und selbstbewusst weiterentwickelt werden

Dankesrede von Innenminister a. D. Gerhart R. Baum, Preisträger des Kulturgroschens 2019 des Deutschen Kulturrates

Der Preis ist mir eine große Freude. Die Kultur ist ein wichtiges Element meines persönlichen und meines politischen Lebens. Es ist eines meiner politischen Lebensthemen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist diese Seite von mir oft hinter anderen Themen zurückgetreten. Für die Wiederbelebung dieser Erinnerung, aber auch für das Interesse an meiner kulturpolitischen Arbeit heute bin ich dankbar.

 

Ich bin der 25. Preisträger – und ich möchte gern an den ersten erinnern. Es war Sieghardt von Köckritz. Er war der Leiter der Kulturabteilung des Bundesministeriums des Innern – ein Glücksfall für die deutsche Kulturpolitik. Er hat vieles von dem in Bewegung gesetzt, was heute zur unverzichtbaren Grundlage unserer Kulturpolitik gehört, und war mir ein inspirierender Ratgeber.

 

Nun mein Dank an die Vorredner: Ich danke der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Ihnen, Frau Schneider-Kempf, der Generaldirektorin der Staatsbibliothek. Ja, ich habe den Neubau der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz damals eröffnet. Mir war das gar nicht mehr bewusst.

Auch Ihnen, Herr Parzinger, dem Präsidenten dieser in der Welt einmaligen Vielfalt des Kulturbesitzes, möchte ich danken. Sie haben das Schiff auch durch schwere See erfolgreich gesteuert. Sie erinnerten an die Zeit, als ich Stiftungsratsvorsitzender war. Und in der Tat ist es so, wie Sie sagten: Vieles, was ich damals politisch vertreten habe, ist als Aufgabe geblieben. Dank auch für die Erinnerung an meine Beiträge zur Entwicklung der Stiftung. Es war mir sehr wichtig, das geteilte Berlin als Ort der Kultur zu stärken, wie ich das vorher schon neben Peter Nestler als einer der Vorsitzenden der Berliner Festspiel GmbH getan habe.

 

Ich danke Susanne Keuchel. Ich freue mich, dass Sie zur neuen Präsidentin des Deutschen Kulturrates gewählt wurden. Glückwunsch zu dieser neuen Aufgabe!

 

Aus unseren Debatten im Kulturrat NRW weiß ich: Sie sind sehr kompetent und nah an den aktuellen Themen, vor allem auch mit Ihrem Fachbereich, der kulturellen Bildung. Von Ihnen und Ihren Mitstreitern ist einiges zu erwarten.

 

Dank an Olaf Zimmermann, den Geschäftsführer. Was wäre der Kulturrat ohne ihn und seine Truppe. Er war mir immer ein kundiger, verlässlicher Partner. Wir profitieren alle von den wichtigen Initiativen und Berichten. Beeindruckt bin ich unter anderem von der Initiative kulturelle Integration. Als Bollwerk gegen eine Welt wachsender Ökonomisierung.
Mein besonderer Dank gilt Isabel Pfeiffer-Poensgen für ihre einfühlsame Laudatio.

 

Mit ihr und ihrem Mann Hanfried verbinden meine Frau und mich eine langjährige Freundschaft. Heute kommt die vertrauensvolle Zusammenarbeit in NRW hinzu. NRW hat endlich wieder eine Kulturministerin. Das ist ein Signal. Du bist auf die Kulturszene im Land zugegangen. Wir fühlen uns von dir gut vertreten. Der NRW Kulturrat hat für diese neue NRW-Kulturpolitik lange und hartnäckig gekämpft, und wir werden diesen Kampf gemeinsam fortsetzen. Es bleibt noch viel zu tun! Dass ich noch einmal für den Vorsitz des Kulturrates kandidiert habe – das hat auch mit dir zu tun.

 

Dank an die Musikerin Dorothee Oberlinger. Seit ich Sie vor vielen Jahren zum ersten Mal während des Romanischen Sommers, den meine Frau in Köln gestaltet und organisiert hat, gehört habe, schätze ich Sie als großartige Interpretin alter und neuer Musik. Die von ihr angekündigte „schlimme Mischung“ gibt der Veranstaltung eine besondere Farbe.
Dank schließlich an meine Frau, die mir auch auf den Wegen der Kultur eine immer inspirierende Partnerin ist!

 

Norbert Lammert, der vorjährige Preisträger – er kann heute nicht hier sein – hat mir einen herzlichen Glückwunsch geschickt mit der Bemerkung, die ich nur zitiere, „endlich ist der Groschen gefallen“. Ich schätze ihn als Kulturpolitiker sehr – er ist einer der wenigen – ich danke ihm.

 

Ich habe schon einmal im Dezember eine Rede zur Kulturpolitik gehalten, nämlich vor dem Deutschen Künstlerbund, und zwar fast auf den Tag genau vor 44 Jahren: am 11.12.1975 hier in Berlin.

 

Schon damals ging es um die Themen, die uns heute noch wichtig sind. Ich begrüßte offiziell in meiner Funktion als Parlamentarischer Staatssekretär und zuständig für die Kultur die Absicht der Berufsverbände, sich zu einem Kulturrat auf Bundesebene zusammenzuschließen. Es war vor allem auch eine Initiative des BMI. Es hat ja dann auch ideelle und finanzielle Geburtshilfe geleistet. Wir können von Glück sagen, dass die Kultur heute gesellschaftlich übergreifend eine starke Lobby hat.

 

Warum Kulturpolitik? Kunst braucht verlässliche Rahmenbedingungen, um sich entfalten zu können. Sie braucht Planungssicherheit. Bereits 1975 gab es einen Aufruf „Kunst ist kein Luxus“ vieler Prominenter in unserem Lande: Mehr als 100.000 Unterschriften kamen zusammen. In der Tat: Kunst ist keine Sache für Schönwetterzeiten, keine x-beliebige Subvention, die immer mal wieder zur Disposition gestellt werden könnte. Eine Gesellschaft ohne die kreativen Kräfte der Kunst würde veröden, wäre nicht zukunftsfähig. Sie muss feste dauerhafte Strukturen haben und nicht von der Hand in den Mund leben müssen.

 

Kunst braucht Künstlerinnen und Künstler. Sie dürfen nicht zur Selbstausbeutung gezwungen und in prekären Einkommenssituationen allein gelassen werden. Schon 1975 veranlasste die Bundesregierung eine Enquete über die soziale und berufliche Lage der Künstlerinnen und Künstler. Das Bundeskabinett verabschiedete ein Programm zur Verbesserung ihrer sozialen und beruflichen Lage. Die Künstlersozialversicherung war ein Ergebnis dieser neuen Politik.

 

Die Lage hat sich seitdem verbessert – aber noch lange nicht genug. Wir setzen uns in NRW für eine Stärkung der individuellen Künstlerförderung ein.

 

Kunst braucht Förderung – das Grundgesetz sieht darin einen Auftrag, um dem Postulat Kulturstaat zu sein, gerecht zu werden. Kunst liegt oft nicht im Mainstream gesellschaftlichen Inte­resses. Aber sie ist auf die Zustimmung der Mehrheit angewiesen – auch in den Parlamenten. Wenn das Geld knapp wird, kommt sie oft zuerst unter die Räder. Kulturförderung heißt, dass sie auch dann geleistet werden muss, wenn die Kunst nur die Interessen einer Minderheit erreicht. So sagt es die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Also: Kunst muss vor Zensur geschützt werden, aber auch gefördert werden. Sie ist eben unverzichtbar für die Fortentwicklung einer Gesellschaft.

 

Nicht nur die Politik, auch die Gesellschaft insgesamt muss sich für Kunst einsetzen. Sie muss die Angebote annehmen. Sie muss Partei ergreifen. Sie sollte sich bewusst sein, dass Kunst ein Potenzial für den dringend notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeutet. Ich begrüße daher nachdrücklich die Initiative kulturelle Integration des Deutschen Kulturrates für ein gesellschaftliches Miteinander.

 

Heute ist ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst notwendiger denn je. Kunst braucht Freiheit! Und unser wunderbares Grundgesetz garantiert ihr diese. Wir haben heutzutage besonderen Anlass, diese Freiheit der Kunst zu verteidigen. Angriffe auf die Kunstfreiheit gab es immer. Heute aber hat sich etwas verändert. „Die neue Rechte hat Kultur als Kampffeld entdeckt“ – unter diesem Titel veröffentlichte Die Zeit in diesem Jahr eine umfangreiche Dokumentation. Eine weitere Dokumentation haben die Süddeutsche Zeitung gemeinsam mit der ARD veröffentlicht. Dieser Kulturkampf von rechts ist Teil des erschreckenden Erstarkens von Rechtsextremismus. Eine rechte Partei macht sich zum Sprachrohr eines dumpfen kunstfeindlichen Populismus, der leicht zu mobilisieren ist. Wenn einige die zeitgenössische Musik brauchen – so höre ich z. B. –, dann sollen sie doch die Musiktage Donaueschingen oder hier in Berlin das Festival „Ultraschall“ selbst finanzieren. Bei der Bewertung von bildender Kunst spürt man mitunter die Verachtung, die Nazis diesen Künstlern entgegengebracht hatten, wenn Kunst, wie sie meinten, entartet, aus der deutschen Art geschlagen war.

 

Angriffe gegen die Kunstfreiheit erfolgen heute flächendeckend in den Parlamenten auf allen staatlichen Ebenen, von Nord bis Süd, von der Provinz bis in die Metropolen. Versucht werden Einschüchterung und Kürzung von Fördermitteln, gemäß den Zielen einer Partei: Kultur „müsse die Nation stärken“. Der Intendant Ulrich Khuon mache „Gesinnungs- und Propagandatheater“. Vor dem Schauspielhaus Dresden gab es Plakate mit der Parole „Kein Cent für politische Kunst“.

 

Kunst ist immer politisch, am Puls der Zeit, wie schon Schillers „Räuber“ oder heute Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Man lese nur Schillers berühmte Rede über „Die Schaubühne als moralische Anstalt“, in der er die Wirkungsmacht der Kunst beschreibt: „Humanitas findet im Theater ihre Form.“ Kunst hat den Anspruch, die „condition humaine“ zu verbessern. Sie ist, wie Flaubert sagte, eine „subventionierte Revolte“.

 

Gerade in Zeiten, in denen die Welt politisch aus den Fugen gerät, kann die Kunst Brücken bauen. Kunst ist in ihrer DNA nicht engstirnig national, sondern weltoffen weit. Sie ist ein Anker in den Stürmen der Zeit. Sie führt weg von einem „Kosmopolitismus mit der Zipfelmütze“, wie Thomas Mann das nannte. Heute wollen ja auch in unserem Lande einige am liebsten zum „Stammesfeuer“ zurück, statt sich den kosmopolitischen Herausforderungen zu stellen.

 

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Kunst einem Neutralitätsgebot unterworfen wird. Sie ist niemals neutral – insbesondere dann nicht, wenn es um die Grundwerte unserer Gesellschaft geht. Wir dürfen nicht zulassen, dass Politiker auf künstlerische Inhalte Einfluss nehmen und von politischem Wohlverhalten die Förderung abhängig machen. Es darf nicht zum Risiko werden, wenn die Kunst von ihrer Freiheit Gebrauch macht.

 

Noch ist der Kulturkampf von rechts eine Sache von aggressiven Minderheiten – aber er hat bereits Auswirkung auf das gesellschaftliche Klima. Die Betroffenen leisten in der Regel kämpferischen Widerstand. Es darf aber nicht zu einer schleichenden Anpassung kommen, schon gar nicht zu einer offenen – wie seinerzeit in Dessau. Und die Künstler müssen sich einmischen – vor allem dann, wenn die Demokratie Gefahren ausgesetzt ist. Zu Recht hat Juli Zeh das bei der Verleihung des Heinrich-Böll-Preises an sie vor wenigen Wochen gefordert.

 

Nichts ist selbstverständlich, auch nicht die Freiheit in einer gefestigten Demokratie. Über unserer Gesellschaft liegt zurzeit – wie ich meine – ein „Hauch von Weimar“. Wir Demokraten sollten alles tun, damit er wieder verschwindet. Gemeinsam sind wir stark!

 

Kunst hat Bedeutung auch für den einzelnen Menschen. Gerade jetzt, wo Globalisierung und Digitalisierung die Gesellschaft, die Politik und nahezu alle Bereiche des Zusammenlebens verändern und die Menschen verunsichert und ängstlich sind. Die Kunst kann zu mehr Selbstsicherheit, Mündigkeit und Urteilskraft verhelfen. Der Mensch ist ein kulturelles Wesen mit kreativem Potenzial. Dieses muss nur freigesetzt werden. Kulturelle Bildung ist ein Gebot der Stunde. Wir sind einem weltweiten Prozess der Ökonomisierung ausgesetzt, einer „neuen Kolonialisierung“, wie Habermas das nennt. Die Kunst aber ist nicht Nützlichkeits- und Verwertungsgedanken unterworfen. Sie ist quotenunabhängig. Sie muss ein Bollwerk in einer ökonomischem Effizienzdenken ausgesetzten globalisierten Welt sein, die zurzeit aus den Fugen gerät.

 

Das gilt auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Seine Existenz ist ein Segen für unsere demokratische Gesellschaft. Er muss aber seine Aufträge auch ernst nehmen. Ein geplanter Kahlschlag bei den Kulturwellen von rbb und Hessischem Rundfunk legt die Axt an den Kulturauftrag, dem die Sender verpflichtet sind. Wachsamkeit ist gefordert. Wir begleiten in NRW sehr aufmerksam die Reformüberlegungen des WDR.

 

Zurück zu 1975: Meine damalige Rede habe ich mit einer Frage begonnen: „Stehen wir am Anfang einer Entwicklung, die mehr oder minder deutlich auf die Wiederentdeckung der Kulturpolitik in unserem Lande hinausläuft?“ Die Antwort war damals schon eindeutig „Ja“. Heute stehen wir längst nicht mehr am Anfang. Es wurde eine Menge erreicht. Unbestritten ist Kulturpolitik heute auch eine Sache des Gesamtstaates, was damals nicht selbstverständlich war. Sie sollte auch noch stärker Sache der Europäischen Union werden.

 

Die Kulturpolitik muss kräftig und selbstbewusst weiterentwickelt werden. Das ist mein Wunsch für die Zukunft. Kunst ist geistige Nahrung für Individuen und Gesellschaft. Sie ist Maßstab für Demokratiebewusstsein. Es gilt das Wort des legendären Kölner Kulturdezernenten Kurt Hackenberg: „Kunst ist nicht alles, aber ohne Kunst ist alles nichts.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Gerhart R. Baum
Gerhart R. Baum ist Innenminister a. D. und Preisträger des Kulturgroschens 2019 des Deutschen Kulturrates.
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