Lena Gorelik & Sven Scherz-Schade - 31. März 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Aus Politik & Kultur: Ukraine

„Jetzt ist der Zeitpunkt für Austausch“


Lena Gorelik im Gespräch

Die Autorin Lena Gorelik wurde 1981 in Sankt Petersburg geboren, kam 1992 zusammen mit ihrer russisch-jüdischen Familie als „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland, wo sie in Baden-Württemberg zur Schule ging. Nach ihrer Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München absolvierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität den Studiengang „Osteuropastudien“. Heute lebt sie mit ihrer Familie in München. Sven Scherz-Schade spricht mit ihr über den Krieg in der Ukraine.

 

Sven Scherz-Schade: Die Ukraine ist in einem Angriffskrieg von Putin-Russland überfallen worden. Die Menschen in der Ukraine erfahren großes Leid. Es gibt Verletzte, Tote, viele sind auf der Flucht. Wie nehmen Sie die Nachrichten auf und haben Sie Kontakte zu Betroffenen?

Lena Gorelik: Momentan bin ich mittendrin, über verschiedene Kontakte und Quellen Menschen aus der Ukraine irgendwie herauszubringen, zu helfen und bei der Unterbringung zu vermitteln. Ich habe mich gewissermaßen in einen Aktionismus gestürzt. Der wurde wohl dadurch ausgelöst, dass ich nach drei Tagen blindem Nachrichtensehen etwas tun musste. Ich kann nicht wochenlang zuschauen. Wo ich helfen kann, helfe ich. Ich habe eine Familie untergebracht, die ein Kind mit einer Beeinträchtigung hat. Daraufhin hat sich sofort jemand, den ich gar nicht kannte, gemeldet, der sagte, dass er eine weitere Familie mit einer taubstummen Person habe, die auch untergebracht werden müsse; so führt ein Kontakt, eine Vermittlung zur nächsten. Ich habe selbst keine Verwandten in der Ukraine, habe aber Freunde mit vielen Verwandtschaften dorthin. Die habe ich auch gefragt, ob sie Hilfe brauchen. Bei einem Transport von Flüchtlingen habe ich übersetzt. Ich spreche russisch und die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer sprechen auch russisch. Es war ja – wenn man das so sagen kann – „lange genug“ Landessprache in der Ukraine. Gestern habe ich deutsche Familien besucht, die Flüchtlinge aufgenommen haben und sich aber, weil sie kein russisch sprechen, nur schwer verständigen können. Also bin ich hin und habe geholfen, die gerade wichtigsten Fragen zu klären.

 

Welche Rolle spielt im Zusammenhang mit dem Krieg gegenwärtig für Sie das Schreiben?

Zum Aktionismus gehört auch, dass es das einzige ist, worüber ich thematisch schreiben kann. Ich habe schon vor Wochen für diese Tage eine Buchbesprechung zugesagt. Aber es erscheint mir jetzt so unsinnig, dieses Buch zu besprechen, das so gar nicht mit dem Thema Ukraine zu tun hat. Ich habe vom ersten Tag des Überfalls an geschrieben und versuche einerseits, die Lage mit meinem Wissen zu erklären als jemand, die aus Osteuropa stammt, andererseits versuche ich, das Geschehen emotional zu erfassen, soweit das eben geht in diesem Ausnahmezustand.

 

Die deutsche Kulturszene – und generell die in der EU – hat mit großer Solidarität für die Ukra­inerinnen und Ukrainer reagiert. Man ist gegen Putins Aggression. Gibt es Statements oder Texte von Schriftstellerkollegen, die Sie besonders erfreut oder auch enttäuscht haben?

Tatsächlich habe ich keine Stimmen pro Putin wahrgenommen. Was es aber in der Kulturszene durchaus gibt, ist eine Pauschalisierung. Es werden russische Künstlerinnen und Künstler pauschal ausgeladen. Das finde ich problematisch und kontraproduktiv für jegliche Entwicklung. Es gibt Stimmen, die direkt in die Cancel Culture führen: Wer sich nicht von Putin distanziert, wird sofort ausgeladen! Das den Menschen abzuverlangen, die in Russland leben, ist hochproblematisch. Sie müssen bei ihrer Rückkehr nach Russland mit Verhaftung oder anderen Repressionen rechnen. Russische Kunstschaffende sind Menschen, die in Russland Familie, Kinder, Freunde haben, die dann in der Folge auch Repressionen erfahren können. Ich halte es für ganz schön privilegiert, in Deutschland zu sitzen und zu fordern, jeder solle sich öffentlich von Putin distanzieren. Ich bin nicht Veranstalterin, aber ja – ich würde auch niemanden einladen, der sich pro Putin äußert. Aber eine Distanzierung vorab – wie so eine reine Weste, die man vorzuzeigen hat – abzuverlangen, kann man nicht einfordern. Ich weiß nicht, was deutsche Künstlerinnen und Künstler sagen würden, wenn man ihnen in den USA ein Blatt vorlegt mit der Aufforderung „Jetzt bitte einmal unterschreiben, dass Sie gegen die Anschläge von Halle und Hanau sind. Ansonsten dürfen Sie nicht auf die Bühne“. Dieses Pauschalisieren, Russinnen und Russen gleich Putin, ist falsch und verhindert jeden Dialog, jedes zukunftsorientierte Denken. Gerade jetzt muss man Künstlerinnen und Journalisten, die ihre Stimme in den vergangenen Wochen noch so gut es ging erhoben haben, unterstützen. Es ist die einzige demokratisierende Hoffnung für Russland. Russland ist ein sehr großes Land mit einer sehr großen Macht. Es ist im Interesse der ganzen Welt, dass dieses demokratische Aufkeimen nicht gänzlich erstickt wird.

 

Wie könnte so etwas aussehen? Sollte man gerade jetzt russische Künstler besonders hören?

Ja. Beispielsweise ein deutsch-russisch-ukrainisches Festival oder Ähnliches. Man darf sich nicht ausspielen lassen von Putins Machenschaften, die dahin polarisieren, wer für die Ukraine ist, wäre gegen Russland.

 

Die Kontakte nach Russland sind aber momentan abgebrochen, auch in der Kultur, obwohl in Deutschland viele wissen, dass ja gerade in der russischen Kulturszene sich demokratische und antiautokratische Leute aufhalten. Müssen die jetzt den Preis bezahlen, den Putins blutige Rechnung aufgemacht hat?

Ja. Ganz viele sind geflohen. Ein paar aber wollen nicht fliehen. Sie sagen, wenn sie gehen, gibt es niemanden mehr, der für ein freies, demokratisches Russland kämpft. Diejenigen, die geflohen und jetzt in Georgien, Lettland, Litauen und anderswo sind, sagen „Ich habe kein Land mehr“. Sie wollen nicht in ein Land zurückkehren, in dem man einen Krieg nicht „Krieg“ nennen darf. Das sind Menschen, die in den vergangenen Jahren auf eine unglaublich mutige Weise gekämpft haben, immer in dem Wissen, es kann sie und ihre Familie treffen. Sie stehen jetzt vor einem Scherbenhaufen und haben kein Zuhause mehr.

 

Kann die Kultur, insbesondere Publizistik und Belletristik, trotz Krieg zivilgesellschaftliche Kräfte stärken, um weiterhin Austausch zu ermöglichen? Die Türen der Diplomatie sind ja bis auf Weiteres erst mal zugefallen.

Ich glaube, dass genau jetzt der Zeitpunkt für diesen Austausch ist. Wenn ich jetzt „Nein“ sagen würde, würde ich auch nie wieder etwas schreiben. Ich glaube an die Kraft des Wortes, die Kraft des Erzählens und an die Empathie, die daraus entsteht. Gerade das Literarische ermöglicht ja etwas, was sich oft nicht in einem objektiv angelegten Zeitungstext formulieren lässt, nämlich Emotionen zu vermitteln. Kultur bringt Menschen auf eine Weise zusammen, die über der Politik steht, weil es dabei um Schönheit der Kunst geht, um Abstraktionen, um Denken abseits von Konventionen, und auch um Fragen, die offene Antworten zulassen. Kultur schafft eine andere Begegnungsebene. Jetzt müssen Geschichten erzählt werden, und jetzt wären Festivals der Begegnung wichtig. Die Stimmung jetzt, heute – dass so viele am Bahnhof stehen und die Flüchtenden freundlich empfangen – wird sich, das befürchte ich, auch wieder drehen. Auch deshalb muss man mit solchen Festivals jetzt beginnen und nicht erst, wenn es zu spät ist.

 

Dass ich Sie interviewe, hängt damit zusammen, dass Sie in St. Petersburg geboren wurden und ich die Vorstellung habe, Sie hätten dadurch eine besondere Beziehung zu dem russisch-ukrainischen Krieg. Ist dem so? Oder unterstelle ich Ihnen da etwas?

Ich äußere mich ja häufig zu politischen und gesellschaftlichen Debatten. Der Krieg nimmt mich sehr mit und das würde er auch, wenn ich nicht von dort käme. Aber er betrifft mich natürlich auf eine andere Weise: Ich bin in einem sowjetimperialistischen Denken aufgewachsen. Dazu gehörte einerseits die Erzählung, dass wir alle Sowjetmenschen sind, eben nicht Russinnen oder Ukrainer, aber eben auch dass wir Schwestern und Brüder sind. Für mich fühlt sich der Krieg manchmal so absurd an, als würden die Bayern die Hessen angreifen. Putin zerstört ja nicht nur die Ukraine. Er zerstört gerade auch Russland. Jede demokratische Erfahrung, die in den vergangenen Jahren gemacht wurde, wird kaputt gemacht. Die unabhängige Presse gibt es einfach nicht mehr. Menschen haben Angst, sich zu äußern. Menschen verarmen.

 

Was macht dieser Krieg jetzt mit Ihrem Migrationshintergrund?

Ich kenne auch Fluchterfahrung. Ich bin zwar unter ganz anderen Umständen – nicht im Krieg – geflüchtet, aber ich kenne das Gefühl, irgendwo anzukommen, die Sprache nicht zu beherrschen, nichts zu haben, nichts zu wissen. Die Schicksale der Flüchtenden berühren mich deshalb auf einer anderen, sehr persönlichen Ebene. Russland ist nicht mein Land. Aber es ist das Land, aus dem ich herkomme. Es trifft mich deshalb persönlich, dass all der Putin-Terror im Namen Russlands geschieht.

 

Alle sind gegen den Krieg. Bei der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine jedoch trennen sich die Meinungen bereits, da stehen nicht mehr alle bedingungslos dahinter. Von George Orwell stammt ein Zitat: „Am schnellsten beendet man einen Krieg, indem man ihn verliert.“ Haben Sie dazu eine Meinung oder halten Sie sich aus solchen militärtaktischen Überlegungen lieber raus?

Ich halte mich bei dieser vereinfachten Diskussion pro/contra zurück. Die Frage, wer welche Waffen in welcher Form und welchem Umfang liefert, ob man dafür oder dagegen ist, wird oft sehr polemisch und überhaupt nicht differenziert diskutiert. Ich glaube allerdings, dass die gegenwärtigen Sanktionen nicht ausreichen. Ich schätze Putin so ein, dass er sich überhaupt nicht darum kümmert, ob es innenpolitisch Unzufriedenheit gibt. Sanktionen, die die Bevölkerung treffen, üben auf Putin keinen Druck aus, der internationale Geldfluss vielleicht aber schon. Deshalb sollte Deutschland die Gasimporte dringend stoppen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/22.


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