Ulrich Lilie - 1. Mai 2016 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Wertedebatte

Pragmatismus und Respekt


Über neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens anhand von Brechts "Kinderhymne"

Ein Text von Bertolt Brecht geht mir in diesen Tagen nicht aus dem Sinn: „Die Kinderhymne“, singbar auf die Melodie der Nationalhymne, aus dem Jahr 1950. Diese Kinderhymne war Brechts Kommentar zum Lied der Deutschen in der jungen Bundesrepublik, die sich seiner Meinung nach allzu gradlinig aus dem nationalsozialistischen Deutschland entwickelt hatte. Die Tonalität dieser Kinderhymne begleitet meine Überlegungen zur aufgegebenen Fragestellung: Welche Werte halten wir als kulturelles Fundament unserer Gesellschaft für konstitutiv und was bedeutet es, in einer multireligiösen und von vielen verschiedenen Kulturen geprägten Gesellschaft zu leben? Ich empfinde es als ein bereicherndes Charakteristikum einer vielfältigen Kultur, dass ich mich als evangelischer Theologe dabei von einem atheistischen Dichter inspirieren lassen kann:

 

„Anmut sparet nicht noch Mühe /
Leidenschaft nicht noch Verstand /
Dass ein gutes Deutschland blühe /
Wie ein and’res gutes Land.“

 

Der erste Vers der Kinderhymne besticht durch seine sprachliche Schönheit, durch geistige Klarheit, emotionale Kraft wie durch seine schlichte Verständlichkeit. Er formuliert eine gesellschaftspolitische Vision so, dass im Wortsinn jedes Kind verstehen kann, worum es geht: Um ein gutes Land nämlich, das blühen soll und an dem mit Anmut, mit Herz, Verstand, Heiterkeit und Kraft gearbeitet werden will. Und sie erinnert in verständlicher Weise daran: Was für ein Kind gut ist, schadet auch Erwachsenen nur selten. Ich vermisse solche verständliche und einleuchtende Rede in der aktuellen deutschen Politik, ein einleuchtendes und nachvollziehbares Narrativ einer gelingenden Integration in einem Einwanderungsland Deutschland.

 

Nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren gab es Versuche, dieses Gedicht von Bertolt Brecht als neue gesamtdeutsche Hymne zu etablieren, weit entfernt von einem ethnisch homogen interpretierten Nationalismus, aber eben doch mit einer nationalbewussten Aussage. Diese Versuche sind im Sande verlaufen. Die Wertedebatte, die damit verbunden gewesen wäre, konnte damals noch nicht geführt werden. In diesen Tagen brauchen wir eine breite Debatte darüber, wer wir als Deutsche sein wollen. Nicht nur weil die nationalistischen Stimmen in Europa und auch in Deutschland wieder Konjunktur haben. Sondern eben vor allem darum, weil »unser« Deutschland, »unser« Europa jetzt und in Zukunft immer mehr Männern, Frauen und Kindern zur Heimat werden wird, die keine deutsche oder europäische kulturelle Prägung erfahren haben. Realismus gebietet, diesen Sachverhalt anzuerkennen. Viele solcher Menschen leben bereits seit Jahrzehnten unter uns. Sie sind Teil unseres Deutschlands geworden. Und es ist heute auch keine Frage, ob noch mehr von diesen Menschen kommen, sondern nur wie und in welcher Anzahl.

 

„Die (…) vielleicht schwerste Übung erfordert das Anderssein des Anderen als Reichtum zu verstehen und einen kultursensiblen Umgang miteinander einzuüben.“

 

Der kulturell homogene Nationalstaat war schon immer eine Fiktion. Ihn ausgerechnet im 21. Jahrhundert zum Ideal politischen Handelns zu erklären, ist nichts anderes als ein politischer Anachronismus und eine rassistische Torheit, die hoffentlich bald ihre Zeit gehabt hat. In einer globalisierten Welt, deren Vorteile wir Europäer nur zu gerne genießen, geht es nicht mehr nur um die Beantwortung der Frage, wie wir als Deutsche miteinander leben wollen, sondern darum, wie wir als Menschen auf diesem Planeten mit seinen begrenzten Ressourcen miteinander überleben können, und wie sich nationale Gesellschaften so organisieren lassen, dass das zur Bereicherung aller und möglichst friedlich gelingt. Das ist der herausfordernde globale und historische Kontext, in dem wir über Werte sprechen. Die Allgemeinen Menschenrechte und das Grundgesetz markieren einen nicht zur Diskussion stehenden Rahmen, jenseits dessen, auch in unserem Land, der »Wilde Westen« bzw. der »Wilde Osten«, das Recht des Stärkeren oder der Biodeutschen drohen – das ist keine Basis für eine vielfältige und menschenfreundliche Kultur.

 

„Dass die Völker nicht erbleichen /
Wie vor einer Räuberin /
Sondern ihre Hände reichen /
Uns wie andern Völkern hin.“

 

Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb Brecht diese Zeilen der zweiten Strophe seiner Hymne. In und nach diesem von Deutschland begonnenen Krieg hatten in Europa rund 60 Millionen Menschen ihre Heimat verloren, es kam zur größten Völkerwanderung nach der Antike. Die Gesellschaft hat unter diesen Belastungen in der Nachkriegszeit geächzt, aber sie ist nicht kollabiert. Im Gegenteil. Heute erbleichen die Völker vor Deutschland nicht mehr »wie vor einer Räuberin«. Für Ungezählte verbindet sich mit einem demokratischen und friedlichen Deutschland vielmehr Hoffnung. Unsere in fast 70 Jahren gereifte, erstrittene und durchgearbeitete Gesellschaftsform der parlamentarischen Demokratie mit einer sozialen Marktwirtschaft, eingebettet in einen europäischen Kulturraum, ist zu einem Sehnsuchtsort für viele geworden. Für manche – ich wage es kaum zu sagen – zu einem Vorbild. Das hätte sich 1950 niemand träumen lassen. Dass dieser Sehnsuchtsort als Festung Europa an seinen Grenzen buchstäblich verteidigt wird, auch nicht.

„Und nicht über und nicht unter /
Andern Völkern woll‘n wir sein /
Von der See bis zu den Alpen /
Von der Oder bis zum Rhein.“

 

Heute sind weltweit über 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Die meisten im eigenen Land oder in den Nachbarländern ihrer Heimat. Das ist nicht erst seit dem vergangenen Spätsommer so. Im vergangenen Sommer ist die Not dieser Menschen lediglich auf eine Art und Weise in unserem Land angekommen, die kein historisches Vorbild kennt. Die den Alltag unterbricht, die die Gewohnheiten infrage stellt und auch handfeste Probleme aufwirft. Und: Das ist gut so. Die Augenwischerei, dass die Konflikte und Kriege in den fernen Ländern uns nichts angingen, hat endgültig ihr Ende erreicht. Die pure Menge an Schutz und Zukunft Suchenden macht es unmöglich, die Menschen jahrelang fern ab unserer Kommunen in Hotspots oder Flüchtlingsunterkünften zu verstecken, zu stigmatisieren und in „sichere Herkunftsländer“ abzuschieben, wie es seit dem Asylkompromiss von 1993 viel zu oft geschehen ist. Diese Welt ist ein Dorf geworden. Brennen an einem Ende des Dorfes die Hütten, kann man am anderen Ende nicht mehr so tun, als ginge einen das nichts an. Wenn die Menschheit eine Verantwortungsgemeinschaft geworden ist, müssen wir lernen, füreinander einzustehen. Ich denke als Christ. Jeder einzelne Mensch unabhängig von Kultur, Hautfarbe und Geschlecht ist in seinem Menschsein für mich ein Ebenbild Gottes; eines Gottes, der sich in besonderer Weise mit den Leidenden identifiziert. Das ist das Schwungrad meiner, unser aller Arbeit in der Diakonie, der sozialen Arbeit der evangelischen Kirchen. Wenn stimmt, dass „Einigkeit und Recht und Freiheit“ die Basis einer lebenswerten Gesellschaft bilden, sollten wir gemeinsam daran arbeiten, dass Einigkeit, Recht und Freiheit nicht nur bei uns in Deutschland gesellschaftlich wirksam werden. Fluchtursachen bekämpfen heißt die eine, miteinander leben lernen die andere Lektion, die wir neu zu lernen haben. Hier ist eine gute Mischung aus schlichtem Pragmatismus und Respekt gefragt. Christen nennen das Nächstenliebe.

 

„Und weil wir dies Land verbessern / Lieben und beschirmen wir’s /
Und das Liebste mag’s uns scheinen /
So wie andern Völkern ihrs.“

 

Kann das gehen? Können wir unser Land »verbessern, lieben und beschirmen« und uns gleichzeitig den Herausforderungen der politischen Großwetterlage verantwortlich stellen? Können wir eine offene Gesellschaft bleiben und Männer, Frauen, Kinder – eine Million oder mehr, sehr viele von ihnen Moslems – integrieren? Ich meine, ja. Werden sie eine neue Heimat finden? Ich hoffe, ja. Können wir Alteingesessenen die unsrige einfach behalten? Das halte ich nicht für eine angemessene Erwartung. Integration heißt, sich aufeinander zuzubewegen, neue Kompromisse auszuhandeln und das Andere der Anderen auszuhalten. Dieses Land wird sich mit den zugewanderten Geflüchteten verändern, so wie es sich immer wieder in seiner Geschichte durch neue Menschen verändert hat und dadurch an kulturellem Reichtum gewonnen hat.

 

Ich bin überzeugt, dass unsere Gesellschaft optimale Bedingungen aufweist, um Menschen anderer Kulturen aufzunehmen, ohne vollständig den eigenen Charakter zu verlieren. Zwei tragende Säulen unseres Verfassungsverständnisses erscheinen mir besonders wichtig, wenn wir in Zukunft in einer multireligiösen Gemeinschaft mit Wertepluralismus friedlich miteinander leben wollen: die positive Religionsfreiheit und das Prinzip der Subsidiarität.

 

Als Christ beobachte ich mit einer besonderen Sensibilität, wie offene Bekenntnisse zu Religion in unserem Land zunehmend kritisch behandelt werden. Kopftuch, Kippa und Kreuz, Minarett, Kirchturm und buddhistisches Zentrum sind ein lebendiger Ausdruck gesellschaftlichen Reichtums, der auf vielfältige Weise unsere Öffentlichkeit prägt. Auch Atheisten, Esoteriker und spirituell Gleichgültige gestalten unser Land mit. Wir haben in der Bundesrepublik sehr gute Erfahrungen gemacht mit diesem Neben- und Miteinander der »Weltanschauungen« im öffentlichen Raum. Anerkannte Religionsgemeinschaften genießen dank des Religionsverfassungsrechts historisch begründete Privilegien und übernehmen zivilgesellschaftliche Verantwortung – hier kommt die Subsidiarität ins Spiel –, die unterschiedslos allen Gesellschaftsmitgliedern zugutekommen soll. Ich stimme Heiko Maas zu, der an dieser Stelle kürzlich darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Möglichkeiten und Privilegien, die unser Religionsverfassungsrecht anbietet, auch für andere Religionsgemeinschaften gelten sollten und dass Staatsverträge ein wichtiger Schritt hin zu einem deutschen Islam mit einem konstruktiven Beitrag zum Zusammenleben aller sind. Wir unterstützen und fördern die Entwicklung eines islamischen Wohlfahrtsverbandes; ich bin überzeugt, dass es in einigen Jahren neben den christlichen, dem jüdischen und den weltanschaulich neutralen auch einen (oder mehrere) islamischen Wohlfahrtsverband geben wird. Integration gelingt durch – die gewollte – Übernahme von Verantwortung zur Mitgestaltung der Gesellschaft.

 

Üben, üben, üben. Das gelingende Zusammenleben der Verschiedenen musste bereits im alten Ägypten wie auch in Europa im Laufe der Geschichte immer wieder neu eingeübt werden. Die erste und vielleicht schwerste Übung erfordert das Anderssein des Anderen als Reichtum zu verstehen und einen kultursensiblen Umgang miteinander einzuüben. So wie wir das seit vielen Jahren mit Fortschritten und Rückschritten an ungezählten Orten unserer Gesellschaft bereits lernen: in Familien, in Kirchengemeinden, in Sportvereinen, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Personennahverkehr, in den Parlamenten und Regierungen oder in der Literatur und der Kunst: Dass ein gutes Deutschland blühe / wie ein andres gutes Land. In einem freien Europa der Menschenrechte und des sozialen Miteinanders der Verschiedenen in einer gerechteren Welt.


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