Integration durch gemeinsame Werte

Welches Wertefundament braucht die Einwanderungsgesellschaft?

Auf den ersten Blick eine einfache Frage – könnte man meinen. Welches Wertefundament kann schon gemeint sein? Natürlich muss es um die allgemeinen Menschenrechte gehen, um die Grundrechte, die sich auch in den ersten Artikeln des Grundgesetzes finden. Oder, um es konkret zu machen: Es geht zuerst um die Würde des Menschen, die unantastbar ist. Es geht um das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit, auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es geht um die Gleichberechtigung von Mann und Frau und es geht darum, dass niemand wegen seiner Herkunft, Rasse, Sprache, Heimat oder wegen seines Glaubens benachteiligt werden darf. Es geht um die Freiheit des Glaubens und die ungestörte Religionsausübung. Es geht um die Meinungsfreiheit, um die Pressefreiheit und um die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Es geht um die Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit. Und es geht um den Schutz der Familie.

 

Grundwerte
Diese in den ersten Artikeln des Grundgesetzes beschriebenen Grundwerte sind unverrückbar. Sie gelten für jeden Menschen, egal, ob hier geboren, hierher gezogen, hierher geflüchtet. Egal, ob jemand lange oder kurz in unserem Land ist. Die Verwirklichung und Umsetzung dieser Grundwerte ist die Aufgabe von uns allen. Es sind Schutzrechte, deren Wahrung zuerst dem Staat obliegt. Die Grundrechte sind aber mehr: Sie sind eine Aufgabe und eine Herausforderung für jeden. Es heißt nämlich auch, die Grundrechte der zu uns kommenden Menschen zu achten. Es heißt auch ihnen Religionsfreiheit zu gewähren. Es geht eben nicht nur darum, das Grundgesetz auf Arabisch zu verteilen – auch wenn dies eine gute Initiative ist. Es geht in erster Linie darum, die Grundwerte tatsächlich zu leben. Dabei sind sie unverhandelbar!

 

Wenn über Integration durch gemeinsame Werte gesprochen wird, so dürfen diese Grundwerte nicht zur Disposition gestellt werden. Und viele Menschen kommen doch auch deshalb nach Europa, weil die Grundwerte hier im Großen und Ganzen geachtet und gelebt werden.

 

Beispiel Kunstfreiheit
Zu diesen Grundrechten gehört zentral auch die Kunstfreiheit. Kunst ist nicht nur das Wahre und Schöne. Kunst ist nicht nur das Verbindende. Kunst fordert heraus und kann und muss an die Grenzen des guten Geschmacks und weit darüber gehen. Gerade haben wir 100 Jahre Dada gefeiert, große Kunst, die für die damals Herrschenden und für weite Teile der damaligen kriegsbegeisternden Bevölkerung, gerade weil sie Grenzen bewusst überschritten hat, eine Zumutung war.

 

Kunst stellt oft gerade für religiöse Menschen eine große Herausforderung dar. Besonders in islamischen Ländern wird die Freiheit der Kunst aus religiösen Gründen in den letzten Jahrzehnten massiv beschnitten. So ist das Todesurteil gegen den Schriftsteller Salman Rushdie auch 27 Jahre nach der Verhängung der Fatwa immer noch gültig und der Zeichner Kurt Westergaard muss auch zehn Jahre nach der Veröffentlichung seiner Mohamed-Karikatur weiter um sein Leben fürchten. Doch auch in der christlichen Kommunität kommt es immer wieder zu heftigen Debatten um Kunstwerke, wie im Jahr 2003 in Regensburg um ein Kunstwerk von Martin Kippenberger. Kippenberger stellte auf einem Bild einen an das Kreuz genagelten Frosch, ähnlich der Christusfigur, dar. Dieses Bild wurde im Zuge der Bewerbung Regensburgs als Kulturhauptstadt Europas 2010 in einer Unterstützungsaktion aus dem Kulturbereich gezeigt. In Regensburg erhob sich gegen dieses blasphemische Bild ein Sturm der Entrüstung.

 

Wir sollten festhalten, dass nicht nur Muslime Probleme mit Kunstfreiheit haben können oder Menschen, die neu nach Deutschland kommen. Auch für die Eingeborenen, für die hier Geborenen und Aufgewachsenen, ist die Kunstfreiheit als Grundrecht eine immerwährende Herausforderung. Kunst kann irritieren. Kunst muss nicht integrieren. Kunst ist subjektiv. Kunst fordert heraus.

„Viele Grundwerte, wie die Kunstfreiheit, sind auch bei uns noch nicht sicher verankert.“

Viele Grundwerte, wie die Kunstfreiheit, sind auch bei uns noch nicht sicher verankert. Der aktuellen Debatte um den Respekt vor Gleichberechtigung oder auch gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften haftet sehr viel Bigotterie an. Viele derjenigen, die sich heute an der Speerspitze zur Verteidigung dieser Rechte befinden, haben noch vor kurzem hiergegen massiv Stellung bezogen. Die Verwirklichung der Grundwerte ist auch für diejenigen, die schon lange hier leben, eine dauerhafte, noch längst nicht abgeschlossene Aufgabe.

 

Alltagskonflikte
Doch oftmals geht es, wenn über Integration gesprochen wird, doch gar nicht um das große Ganze. Geht es nicht um die Würde des Menschen. Dreht es sich nicht um die Verteidigung der Meinungsfreiheit oder das Aushalten der Kunstfreiheit. Die echten Alltagskonflikte entstehen doch sehr oft in ganz anderen Situationen: der in Deutschland seit einigen Jahren eingeübten Mülltrennung, offensichtlich ein wirkliches Problem in Flüchtlingsunterkünften, und an vermeintlich deutschen, protestantischen Tugenden, wie Pünktlichkeit oder auch Zuverlässigkeit.

 

Dass Geflüchtete, die zu einem Deutschkurs eingeladen sind, auch tatsächlich da sind, wenn er anfängt, also pünktlich sind. Dass sie bei der Stange bleiben, also zuverlässig sind.

 

Wir hatten im Deutschen Kulturrat kürzlich eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema Bürgerschaftliches Engagement für Geflüchtete befasst hat. Schnell bestand Einigkeit, dass die Grundwerte nicht zur Diskussion stehen. Ebenso schnell wurde deutlich, dass die, die praktisch in der Arbeit mit Geflüchteten aktiv sind, doch so oft an den fehlenden „Tugenden“ schier verzweifeln. Dass sie sich über sich selbst ärgern, weil sie so deutsch sind, weil ihnen beispielsweise Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit so wichtig sind. Das gilt im Übrigen auch für Menschen mit Migrationshintergrund, die lange in Deutschland leben und die jetzt merken, wie deutsch sie sind.

 

Hier geht es nicht um Werte im Sinne von Grundwerten, sondern um eingeübte Umgangsformen, um etwas, was uns wichtig ist – auch wichtig in einer Einwanderungsgesellschaft, weil es Teil unserer DNA ist. Sich hiermit zu befassen, ist auch ein Teil einer ehrlichen Diskussion um Integration, auch wenn die Tugenden weniger unverrückbar sind als die Grundwerte.

„Dabei zeigt die Bundesrepublik schon seit vielen Jahrzehnten, dass sie ein Einwanderungsland ist.“

Einwanderungsgesellschaft
Dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist, hat sich keineswegs überall und bei allen herumgesprochen. Dabei zeigt die Bundesrepublik schon seit vielen Jahrzehnten, dass sie ein Einwanderungsland ist. Zu denken ist etwa an sogenannte Spätaussiedler aus Russland, aus Rumänien oder auch aus Polen, die bis zur Mitte der 1980er Jahre in die Bundesrepublik kamen und im Großen und Ganzen ihren Platz gefunden haben. Gedacht werden kann auch an die sogenannten Boatpeople, Flüchtlinge aus Vietnam, die Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik eine neue Heimat fanden. Oder auch an russische Juden, die in den 1990er Jahren nach Deutschland kamen und in vielen jüdischen Gemeinden inzwischen die Mehrheit stellen. Und natürlich gehören dazu auch jene Menschen, die als sogenannte Gastarbeiter kamen und die inzwischen längst in Deutschland zu Hause sind. Oft ist es die dritte Generation, die inzwischen hier zu Hause ist und auf ihre Weise das Deutsch sein lebt.

 

Deutschland ist ein Einwanderungs­land, weil es ein wirtschaftlich prosperierendes Land ist, in dem eben jene Grundrechte gelten, von denen eingangs die Rede war.

 

Dennoch hat es Jahrzehnte gedauert, die Realität anzuerkennen. Die erste rot-grüne Bundesregierung hat mit der von Rita Süssmuth (CDU) geleiteten Zuwanderungskommission (September 2000 – Juli 2001) eine gesellschaftliche Diskussion hierüber eingeleitet. Es folgten erste gesetzgeberische Maßnahmen und auf der operativen Ebene der Nationale Integrationsplan, aber es wurde kein Einwanderungsgesetz auf den Weg gebracht. Besonders CDU und CSU verhinderten über Jahrzehnte die Schaffung eines modernen Einwanderungsrechtes, das wir gerade jetzt dringend brauchen würden.

 

Integrationsprobleme und teilweise entstandene Parallelgesellschaften dürfen nicht geleugnet werden, doch wäre es sicherlich hilfreich, einmal rein statistisch gegenüberzustellen, wie viele Menschen, die zugewandert sind, hier bestens integriert leben und letztlich wie wenige Menschen Probleme verursachen. Die öffentliche Diskussion um Integration hat positiv bewirkt, sich darüber Gedanken zu machen, wie divers unsere Gesellschaft ist, welche Menschen von welchen Angeboten Gebrauch machen und inwieweit sich gerade auch öffentlich geförderte Einrichtungen darüber Gedanken machen, ob sie alle Teile der Gesellschaft erreichen. Teilhabe und Partizipation an gesellschaftlichen Angeboten sind hierfür die entscheidenden Stichworte.

 

Fazit
Selbstbewusst kann heute gesagt werden, dass es gelungen ist, sehr viele Menschen in den vergangenen Jahrzehnten in unser Land, in unsere Gemeinschaft zu integrieren. Und zwar so zu integrieren, dass es ein gemeinsames Wertefundament gibt. Es spricht nichts dagegen, dass es uns auch weiterhin gelingen wird.

 

Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 02/2016 erschienen.

Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.
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