Audrey Azoulay - 24. September 2016 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Wertedebatte

In Vielfalt geeint - Für ein offenes und großzügiges Europa


Ein Beitrag von Audrey Azoulay, Ministerin für Kultur und Kommunikation in Frankreich

Europa wird angegriffen. Frankreich ist ein weiteres Mal verwundet worden. Gewalt und Angst und zuweilen auch die Antworten darauf bringen unsere Demokratien ins Wanken. Gerade vor diesem Hintergrund ist und bleibt die Kultur eine wichtige Stärke.

 

Die Anschläge im Januar 2015 in Paris waren ein Angriff auf die Freiheit und die Brüderlichkeit. Am 13. November 2015, im Bataclan und den Pariser Straßencafés, wurden die Kultur und unsere Lebensweise getroffen. Am 14. Juli dieses Jahres, am französischen Nationalfeiertag, der für unseren Freiheitskampf durch die Jahrhunderte steht, sind Kinder, Frauen und Männer auf der Promenade des Anglais in Nizza einem unbeschreiblichen Gewaltakt zum Opfer gefallen. Unsere Freiheiten, unsere Momente der Brüderlichkeit sind die Zielscheiben des Terrors.

 

Unsere Herausforderung, unsere Pflicht in diesen Zeiten ist es, geeint zu bleiben und an unseren Werten festzuhalten; uns dem Zynismus und den Entgleisungen zu widersetzen, die unser Land schwächen würden; unsere Freiheiten und unsere Einheit zu schützen; dem kreativen Schaffen und der Fantasie ihren Raum zu bewahren. Diese Widerstandsfähigkeit findet ihre Grundfesten in der Kultur.

 

„Diese Widerstandsfähigkeit findet ihre Grundfesten in der Kultur.“

 

Gilles Deleuze hat einmal gesagt: „Nicht jeder Akt des Widerstands ist ein Kunstwerk, wenngleich dem in gewisser Weise doch so ist. Nicht jedes Kunstwerk ist ein Akt des Widerstands, doch in gewisser Weise ist dem so.“

 

Sinn und Zweck unseres Handelns im Kulturbereich ist es, die Werte unseres Landes zu verteidigen, das kreative Schaffen als verbindendes und die Gemeinschaft stärkendes Element zu bewahren, und dies in einem Bewusstsein der Freiheit und der Verantwortung.

 

In einem Moment, der sich für die französische Gesellschaft als Scheidepunkt erweisen kann, ist das kreative Schaffen, davon bin ich überzeugt, ein mächtiger Ort des Dialogs, während sich überall sonst der Ton verschärft. Mächtig deshalb, weil es uns da vereint, wo Spaltung droht; mächtig aber auch, weil hier das gesellschaftliche Imaginäre seinen Ursprung nimmt, weil es also der Ort ist, der das Objekt aller Begierde und Machtkämpfe ist, und weil dort die Werte entstehen, die unsere Gesellschaft ausmachen.

 

Genau deshalb dürfen wir heute bei den Kulturangeboten keine Zugeständnisse machen – ob Festivals, Museen oder auch Straßenkunst – und müssen zugleich einen verantwortungsvollen Umgang mit den Sicherheitsanforderungen pflegen. Kunst ist ein Ort der Begegnung. Kultur bedeutet immer ein Sich-Öffnen für das Andere.

 

Künstler setzen manchmal genau da an, wo es wehtut. Sie sorgen immer wieder für Polemik. Nicht alle Karikaturen von Charlie Hebdo bringen mich zum Lachen, sie alle jedoch sind für den Ausdruck unserer Meinungsfreiheit unerlässlich.

 

Das französische Parlament hat am 7. Juli 2016 mit dem „Gesetz über die Schaffensfreiheit, die Architektur und das Kulturerbe“ ein Regelwerk verabschiedet, das die Bedeutung von Künstlern und des kreativen Schaffens in unserem täglichen Leben bekräftigt.

 

Wir können stolz sein, dass in den ersten Artikeln dieses Gesetzes die Grundsätze Schaffensfreiheit, Verbreitungsfreiheit und freie Programmgestaltung festgeschrieben sind. Das Gesetz stellt jedoch nicht nur Grundsätze auf, es enthält greifbare und grundlegende Bestimmungen zugunsten des kreativen Schaffens. Nicht zuletzt im Bereich der Architektur.

 

Mit den Worten von Alejandro Aravena, Chefkurator der Architektur-Biennale Venedig: „Architektur ist viel mehr als ihre rein ästhetische und künstlerische Dimension. Sie umfasst ebenso das Alltägliche wie das Außergewöhnliche. Die Schwierigkeit der Architektur besteht darin, dieses Spektrum in seiner ganzen Breite abzudecken, vom Alltäglichen bis hin zum Außergewöhnlichen.“ Das beschlossene Gesetz zielt besonders auf die Förderung der alltäglichen Architektur ab.

 

Das Kulturerbe, das für unsere gemeinsame Geschichte steht, und das so vielen Menschen wie möglich zugänglich sein muss, wird nun stärker geschützt. Das Verständnis und die Kenntnis unserer gemeinsamen Geschichte und unserer Wurzeln sind entscheidend dafür, dass unsere Gesellschaft in ihrem Wesen bewahrt wird.

 

Nach den Zerstörungen in Mossul, Nimrud und Palmyra hat Frankreich beschlossen, verstärkt gegen den illegalen Handel mit Kulturgut vorzugehen, der allzu oft der Terrorismusfinanzierung dient. Das neue Gesetz eröffnet die Möglichkeit, gefährdete Werke in Krisenzeiten sicher aufzubewahren. Die Zerstörung von Denkmälern und Kunstwerken zielt darauf ab, ganze Bevölkerungsgruppen auszulöschen, indem ihre Geschichte, ihre Vergangenheit und all das vernichtet wird, was ihre Zivilisation und ihre Kultur ausmacht.

 

Ferner haben wir Überlegungen über die Zukunft unserer Museen angestoßen. Wie kann das Museum des 21. Jahrhunderts den Erwartungen der Besucher, den neuen Präsentationsformen von Werken, den neuen Möglichkeiten der Vernetzung von Sammlungen und den Entwicklungen der Berufe gerecht werden?

 

Das Museum des 21. Jahrhunderts kann erst dann Gestalt annehmen, wenn die bleibenden Fragen aus dem vergangenen Jahrhundert geklärt sind. So etwa die Frage der Rückgabe von NS-Raubkunst.


Die damaligen Enteignungen waren auch Raubbau am Gedächtnis der Menschheit. Bislang wird die Rückgabe von Werken erst dann veranlasst, wenn die Anspruchsberechtigten entsprechende Forderungen an den Staat gerichtet haben. Inzwischen wurde ein neues Verfahren auf den Weg gebracht, wonach das Ministerium auf eigene Initiative die ursprünglichen Eigentümer der Werke und anschließend die Anspruchsberechtigten ausfindig machen kann.

 

Die Rückgabe eines Werks von Edgar Degas im vergangenen Juni bildet den ersten Erfolg dieser neuen Vorgehensweise, die wir für selbstverständlich und legitim erachten. Diese Familien sind nicht freiwillig zu Opfern geworden. Warum sollten wir sie nun auch noch dazu verpflichten, das einzufordern, was ihnen zusteht?

 

Unser Engagement in dem komplexen Bereich der Provenienzforschung hat Frankreich und insbesondere das Kulturministerium dazu veranlasst, sich auf Bitten der deutschen Behörden seit 2014 aktiv an der Erforschung der Herkunft der Werke aus der entdeckten Sammlung von Cornelius Gurlitt zu beteiligen, von der ein Teil mit großer Wahrscheinlichkeit in Frankreich enteignet wurde.

 

Das Kolloquium „Patrimoine spoliés. Regards croisés France-Allemagne / Provenienzforschung. Wechselseitige Perspektiven – Frankreich und Deutschland“, das auf Initiative des Deutschen Forums für Kunstgeschichte (DFK), des Institut national du patrimoine (INP) und des Institut national d’histoire de l’art (INHA) im vergangenen Juni in Paris stattgefunden hat, zeugt von diesem gemeinsamen Willen.

 

Unsere dringlichste und gemeinsame Verpflichtung besteht gegenüber den Kindern, den Jugendlichen, der Jugend, welche die Welt erben wird, wie wir sie gestalten. Auch hier ist die Kultur stark, denn sie hält den Schlüssel zur Emanzipation, zu den Beziehungen zum Anderen und manchmal auch zur Entdeckung seiner selbst. Auch der Lehre an Kunsthochschulen, einer unserer Stärken, werden durch die Gesetzgebung neue Perspektiven eröffnet.

 

Abschließend möchte ich das Thema Informationsfreiheit aufgreifen. Mit Deutschland teilen wir die Überzeugung, dass eine freie Presse, eine vielfältige Medienlandschaft, eine kritische und gut informierte Öffentlichkeit sowie eine echte öffentliche Debatte die stärksten Garanten der Demokratie sind. Diese Überzeugung steht im Zentrum unseres Gesetzentwurfs zur Unabhängigkeit der Medien, dessen Verabschiedung in Frankreich bevorsteht. Das Gesetz soll die Unabhängigkeit von Redaktionen gegenüber Werbetreibenden und Aktionären gewährleisten. Ferner sieht es einen besseren Schutz von journalistischen Quellen vor: Hier steht der Reifegrad unserer Demokratie auf dem Spiel, ebenso wie ihre Fähigkeit, im Sinne des Gemeinwohls die investigative Arbeit von Journalisten und Whistle­blowern zu verteidigen, wie es die jüngsten Enthüllungen um die Panama Papers und Luxleaks gezeigt haben.

 

Schaffensfreiheit anerkennen, schützen und gewährleisten. Den Dialog zwischen den einzelnen Kultursparten voranbringen. Bessere Rahmenbedingungen für Künstler und Unterhaltungstechniker schaffen: Auch an diesem Ziel halte ich fest.

 

2017 ist Frankreich Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. In diesem Rahmen wird Frankreich das ganze Jahr über bundesweit seine Kulturindustrie präsentieren und für seine Kultur und Sprache werben. Wir wollen dieses Ereignis ausgiebig nutzen, um die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen Deutschland und Frankreich noch weiter zu vertiefen und unsere gemeinsamen Standpunkte in der Buch- und Schriftpolitik zu festigen, gerade jetzt, wo in Europa grundlegende Debatten im Gange sind.

 

Wir müssen Europa neu denken. Der Ansatz, nach dem die Integration des Binnenmarktes als absolut vorrangig und die nationalen Politiken zugunsten des Urheberrechts und der Kulturförderung zuweilen als „Hindernisse für die Schaffung eines Binnenmarktes“ gelten, ist überholt.

 

„Kultur ist anspruchsvoll und ambitioniert, sie ist vielseitig und der Zukunft zugewandt.“

 

Wir sind überzeugte Europäer. Und dennoch haben wir die Territorialität des Urheberrechts verteidigt, weil sie den Kultur- und Sprachräumen entspricht, in denen wir schaffen.

 

Europas Stärke liegt in der Vielfalt seiner Kulturen und Sprachen: „In Vielfalt geeint“.

 

Diesen Herbst werden wir in Brüssel über das Urheberrecht und die Regulierung von Online-Plattformen diskutieren. Auch hier werden Deutschland und Frankreich an vorderster Front für die Kultur eintreten, denn das Urheberrecht ist die Grundlage für das kreative Schaffen. Wir werden uns für die Rechte und die Vergütung der Urheber stark machen, da wo heute große Plattformanbieter einen Großteil der Wertschöpfung abgreifen.

 

Unser Kurs lautet kulturelle Vielfalt und nicht Uniformität. Es ist an uns, gemeinsam zu zeigen, dass Europas Kreativität, dass die Förderung seiner kulturellen Vielfalt und des Dialogs zwischen den Völkern und Kulturen unsere gemeinsame Zukunft bildet. Es ist unsere Aufgabe, unsere Vorstellung von Europa zu verteidigen: ein Europa, das offen und großzügig ist.

 

Die Kultur kann das Fundament für ein solches Europa bilden. Das ist nicht leicht, doch dieses Ideal steckt im Grunde schon in ihrem Wesen: Kultur ist anspruchsvoll und ambitioniert, sie ist vielseitig und der Zukunft zugewandt.

 

Aus dem Französischen übersetzt von Katharina Jägle, Französische Botschaft Berlin.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/16.


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