Arnulf Rating - 8. November 2015 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Wertedebatte

Die Ursachen der Flucht


Politik und Kultur haben bei uns wundersam zusammengewirkt und eine neue politische Kultur geboren: die Willkommenskultur. Kulturorte wurden Willkommenskulturorte. Das Hamburger Schauspielhaus nahm Flüchtlinge auf. Im Ruhrpott wurde die Emscher-Lippe-Halle ihr Lager.

 

Auf einmal war das Thema Flüchtlinge omnipräsent. Dabei waren Flüchtlinge schon immer da. Doch es war egal. Sie wurden vor der Festung Europa von Frontex behandelt wie Dreck, gingen vor Lampedusa unter oder verbrannten in der Polizeizelle wie Oury Yallo in Dessau. Und erst nach 199 Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime allein in diesem Jahr hat sich die Kanzlerin vor Ort bequemt. Um nach dem Rechten zu sehen. Warum jetzt? Weil dem Bundesverband der Deutschen Industrie Zuwanderung zusagt? Weil Lobbyisten wie Meinhard Miegel rechnen, wir bräuchten 500.000 möglichst junge Zuwanderer im Jahr, damit die ausgelutschte Rente weiter funktioniert? Wir brauchen nützliche Idioten? Auf einmal geht es. Wir sind reich: Wer mal eben 500 Milliarden für die Bankenrettung hat, der hat auch 10 Milliarden für die Flüchtlingswelle. Wir schaffen das! Willkommenskultur!

„Es ist halt der jahrelange Krieg gegen den Terror, der ganze Länder destabilisiert hat.“

Da stehen wir, besoffen von unserem Gutmenschentum. Und fragen kaum noch nach den Ursachen der Flucht. Die Verbrecher sind für uns die Schlepper. Die jagen wir mit der Bundeswehr. Was da sonst passiert, wo diese Leute herkommen? Es ist halt der jahrelange Krieg gegen den Terror, der ganze Länder destabilisiert hat. Der geführt wird für eine süchtige Kriegsmaschinerie, die in den USA bisher vier Billionen Dollar verschlang. Ja: Terror ist ein Geschäftsmodell. Kriege und Angst vor Anschlägen sind der Motor der US-Wirtschaft. Das hochverschuldete Land kann sich Frieden gar nicht leisten! Was die Bushs entfesselten, das hat Friedensnobelpreisträger Obama alltagstauglich gemacht. Der Antiterrorterror vernichtet Millionen Menschen. Die Waffen sind präzise. Aber 90 Prozent der Opfer des Krieges gegen den Terror sind keine Terroristen. Es sind Zivilisten.

 

Und doch: Es gibt einige, die diesen Terror und Antiterrorterror überlebt haben! Die genug haben von Fassbomben. Genug vom aufgeputschten religiösen Wahn. Oder schlicht vom ständigen Sirren der Drohnen, dieser Weiterentwicklung von Hitlers V1. Bei uns in Ramstein, dem größten US-Stützpunkt außerhalb der USA, stehen die Antennen. Von dort bekommen alle Drohnen ihre Signale. In den USA sitzt der Drohnenlenker im Drehstuhl. Ein Foto von seinen Lieben vor sich, links der Coffee-to-go, rechts der Joystick. So wird die Liste abgearbeitet, die auch deutsche Dienste erstellt haben. Wer wartet da, bis er dran ist? Die Menschen fliehen mit einem Foto von Mutti Merkel ins Mutterland des Drohnenterrors. Ohne Ramstein kein Drohnenkrieg! Warum lassen wir das zu? Wo von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen sollte? In welcher Wertegemeinschaft leben wir?

„Es ging nie um Menschenrechte oder Demokratie. Wenn Demokratie störte, wurde sie beseitigt.“

Seit dem Ersten Weltkrieg, als das Öl kriegsentscheidend wurde, sucht der Westen die arabische Welt heim. Es ging nie um Menschenrechte oder Demokratie. Wenn Demokratie störte, wurde sie beseitigt. Wie im Iran 1953. Es ging stets um Öl. Das wird jetzt knapp. Doch wir fahren weiter darauf ab. Alle Maschinen laufen damit. Alle Flieger. Die Autos. Ohne Öl kein Asphalt, keine Chemie, keine Medizin. Kein Joghurtbecher. Keine Druckerschwärze. Ohne Öl können wir nicht. Wir sind süchtig danach. Und wir beschaffen uns den Stoff. Wie? Das ist Beschaffungs­kriminalität. Öl ist der Wert, der unsere Wertegemeinschaft kittet. Das können wir nicht übertünchen. Auch wenn wir die Abgaswerte unserer Autos noch so sehr fälschen. Ja, wir sind umweltbewusst. Wir trennen den Müll. Wir recyceln die Flaschen – in der Politik selbst Flaschen wie Pofalla. Leere Flaschen wie Ex-Minister Niebel, der seine Despotenkontakte beim Rüstungskonzern Rheinmetall versilbert. Warum gibt es da keine Abwrackprämie? Warum keine Abwrackprämie für Panzer? Wieso keine Flüchtlingsabgabe auf Waffen? Das geht nicht? Wir haben eine Sparspülung am Klo und eine Energiesparlampe in jeder Birne! Aber im Antiterrorkampf gilt das nicht. Da kann man foltern, töten, Hochzeiten beschießen, wie es gerade passt. Menschenrechte hin, Völkerrecht her. Wir bekämpfen die Schlepper. Doch wieso schaffen wir es nicht, die Kriegstreiber vor ein Gericht zu bringen? Wozu haben wir den Internationalen Strafgerichtshof? Was ist mit Assad? Warum müssen sich die Bushs und Obama nicht dort verantworten? Ja, wir haben den Internationalen Strafgerichtshof. Aber es gibt einige Länder, die da nicht mitmachen. Schurkenstaaten wie Nordkorea. Oder Syrien. Und die USA.

 

Dafür haben wir unsere Willkommenskultur, begrüßen Flüchtlinge mit Beifall. Die Kanzlerin lächelt für sie auf Selfies. Hier, wo Lebensmittel billiger sind als Hundefutter. Respekt! Doch so, wie es läuft, kann es nicht weitergehen: Wir werden die Probleme nicht lösen mit dem Denken, das diese Probleme hervorgebracht hat.

 

Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2015 erschienen.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/wertedebatte/die-ursachen-der-flucht-3/