Gabriele Schulz - 8. November 2015 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Wertedebatte

60 Millionen Menschen auf der Flucht


Weltweite Solidarität ist eine Facette der Wertedebatte

M an sollte daran erinnern, dass es schon einmal eine Zeit gab, in der in Deutschland Millionen von Menschen Zuflucht suchten. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg lebten rund neun Millionen Displaced Persons aus 20 Nationalitäten in Deutschland. Sie hatten die Konzentrations- und Arbeitslager des Nationalsozialismus überlebt. Insgesamt 12,5 Millionen Deutsche aus den sogenannten deutschen Ostgebieten flohen in die vier Besatzungszonen, darunter waren auch Deutsche, die als Minderheiten in anderen Staaten gelebt hatten. Das von Krieg und Zerstörung gezeichnete Deutschland bot diesen Menschen zunächst Zuflucht. Wer mit Menschen spricht, die selbst Flucht oder Vertreibung erlebt haben, erfährt, dass die Aufnahme durch jene, die ihre Heimat nicht verloren hatten, keineswegs immer freundlich war. Zusätzlich zu jenen Flüchtlingen der unmittelbaren Nachkriegszeit flüchteten zwischen 1945 und 1961 etwa 2,7 Millionen DDR-Bürger in die Bundesrepublik. Schätzungen zufolge befinden sich derzeit rund 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Mehr als die Hälfte dieser Flüchtlinge stammen aus fünf Staaten: Syrien, Afghanistan, Somalia, Sudan und Südsudan. Eine Hauptursache der Flucht ist Krieg. Laut UNHCR nahmen, bezogen auf die Einwohnerzahl im Jahr 2014, Libanon und Jordanien die meisten Flüchtlinge auf. Beides sind Nachbarländer zu Syrien. Die Türkei, ebenfalls ein Nachbarstaat zu Syrien, ist der Einzelstaat, der nach UNHCR-Statistiken mit 11 Prozent die meisten Flüchtlinge weltweit aufnahm, gefolgt von Pakistan mit 10,5 Prozent aller Flüchtlinge.

 

In Deutschland treffen seit Sommer dieses Jahres in großem Umfang Flüchtlinge ein. Täglich sind Bilder von Menschen zu sehen, die inzwischen auf der sogenannten Balkan-Route nach Deutschland kommen. Erschöpft erreichen sie die österreichische und später die deutsche Grenze, um hier zu bleiben oder weiter nach Schweden zu ziehen. Sehr viele Menschen engagieren sich in Deutschland für Flüchtlinge. Die so oft als Dinosaurier gescholtenen Wohlfahrtsverbände helfen bei der Unterbringung, stellen Kleidung, Decken usw. zur Verfügung. Auch viele Kulturinstitutionen sowie -verbände engagieren sich in Flüchtlingsunterkünften oder öffnen ihre Türen gezielt für Flüchtlinge. Sie schaffen Begegnungsräume und erlauben für einige Stunden Ablenkung von Enge, Sorge vor der Zukunft und ganz banaler Langeweile.

Die weltweite Solidarität ist auch eine Facette der Wertedebatte.“

Trotz verschiedener Bemühungen ist es bislang nicht gelungen, eine europäische Lösung für die nach Europa kommenden Menschen zu finden. Kleinere EU-Mitgliedstaaten verfügen kaum über die Ressourcen, um Flüchtlinge unterzubringen. Manche EU-Mitgliedstaaten ducken sich einfach weg und hoffen vielleicht, dass sie nicht gesehen werden. Andere EU-Mitgliedstaaten zeigen auf Deutschland und sehen hier die Verantwortung für steigende Flüchtlingszahlen. Die Sprecherin des UN-Flüchtlingswerks Melissa Fleming mahnte Mitte Oktober dieses Jahres eine europäische Lösung an und sah insbesondere in Griechenland den Schlüssel zur verbesserten Registrierung und späteren Verteilung von geflüchteten Menschen. Griechenland, war da nicht etwas? Genau jener Mitgliedstaat, der in der ersten Jahreshälfte 2015 eher wie ein störrisches Kind behandelt wurde, das seine Hausaufgaben nicht macht, soll nun eine Schlüsselrolle in der europäischen Flüchtlingspolitik übernehmen?

 

Es ist schon ein wenig Ironie dabei, dass, nachdem die Türkei über Jahre hinweg bei den Beitrittsverhandlungen am langen Arm der EU verhungerte, sie nun an Bedeutung gewinnt. Frei nach dem Motto: Jeder Flüchtling, der bei euch bleibt, kommt nicht zu uns. Vielleicht werden wir uns in den nächsten Wochen noch wundern, wie freundlich auf einmal mit Griechenland umgegangen werden kann, wenn es dazu dient, dass weniger geflüchtete Menschen nach Deutschland kommen.

 

60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht: Das ist Anlass zu handeln. Zu handeln, um Bürgerkriegen entgegenzuwirken, um Hunger und Ungerechtigkeit zu beseitigen, um Menschen Perspektiven für ihr Leben und ihr Glück zu geben. Denn Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gelten nicht nur im Geltungsbereich des Grundgesetzes, sondern sind universelle Werte. Die weltweite Solidarität ist auch eine Facette der Wertedebatte.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2015 erschienen.


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