Not perfect

Bemerkungen über vermeintlich normale und vermeintlich behinderte Künstler

Künstlerinnen und Künstler, egal ob Musiker, Tänzer, Schauspieler, bildende Künstler, zeichnet ihre Begabung aus. Ihre Begabung ist die Voraussetzung, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen und hierfür entweder eine Ausbildung an einer Kunst- oder Musikhochschule zu absolvieren, oder wie es bei Literaten sehr oft der Fall ist, sich als Autodidakten aus- und weiterzubilden. Sehr oft geht eine künstlerische Begabung damit einher, dass andere Fähigkeiten weniger stark ausgebildet sind. So ist festzustellen, dass Menschen mit einer visuellen Begabung, wie sie für eine Tätigkeit als bildende Künstlerin oder bildender Künstler unerlässlich ist, sich nicht selten verbal weniger gut ausdrücken können und im schriftlichen Ausdruck Probleme haben. Musikerinnen und Musiker, die sich entweder mit ihrer Stimme oder ihrem Musikinstrument hervorragend ausdrücken können oder Musik komponieren, fehlen oft ebenfalls die Worte, ihre Musik zu erklären. Demgegenüber liegt die Stärke bei Literaten im Umgang mit den Worten, mit dem Stilmittel Sprache. Diese Begabung wird aber wiederum mit einer Schwäche in anderen Bereichen „erkauft“.

D. h. die Hochbegabung von Künstlerinnen und Künstlern auf der einen Seite geht oft mit einer Minderbegabung in einem anderen Bereich einher. Multitalente wie Leonardo da Vinci sind sehr, sehr selten.

 

In der kulturellen Inklusionsdiskussion sollten die künstlerischen Leistungen von Menschen mit Behinderungen nach vorne gestellt werden und nicht ihre körperliche Einschränkung. Denn Künstlerinnen und Künstler mit körperlichen Einschränkungen stellen sich mit ihrer Kunst dem Publikum und nicht mit ihrer Einschränkung. Sie stehen mit Künstlerkolleginnen und -kollegen in einem künstlerischen Wettbewerb. Es darf keinen Mitleidsbonus für Künstlerinnen und Künstler mit Einschränkungen geben.

 

Künstlerische Laufbahnen verlaufen zumeist nicht geradlinig. Künstlerinnen und Künstler stellen mit ihrer Arbeit stets auch sich selbst zur Diskussion. Eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche künstlerische Karriere ist der unbedingte Wille, es schaffen zu wollen, Fleiß und Disziplin, Glück und ein immenses Durchhaltevermögen, um trotz Rückschlägen bei der Stange zu bleiben.

 

Das Gesagte gilt für alle Künstlerinnen und Künstler, egal ob eine körperliche Einschränkung vorliegt oder nicht. Künstlerinnen und Künstler mit einer körperlichen Einschränkung müssen zusätzlich zu dem ohnehin erforderlichen Durchhaltevermögen noch eine Portion mehr Obsession mitbringen, um sich selbst, aber auch ihre Umgebung von ihrem künstlerischen Weg zu überzeugen. Diese Obsession ist dann aber das beste Rüstzeug, um eine erfolgreiche Berufslaufbahn einzuschlagen.

 

Zum Glück sind Menschen nicht perfekt. Dies zu zeigen, Berufschancen zu eröffnen und damit der Diskussion um Inklusion eine neue Facette hinzuzufügen, ist Aufgabe einer inklusiven Kulturpolitik. Sie darf sich nicht darauf beschränken, den Weg zu ebnen, dass Menschen mit körperlichen oder nicht-körperlichen Einschränkungen Kultureinrichtungen nutzen. Es ist auch zu wenig, den besonderen therapeutischen Wert der Beschäftigung mit Kunst und Kultur für Menschen mit körperlichen und nicht-körperlichen Einschränkungen hervorzuheben, auch wenn dieser unumstritten und sehr bedeutsam ist. Es muss darum gehen, angehenden Künstlerinnen und Künstlern die Türen von Ausbildungseinrichtungen zu öffnen. Dabei müssen sie sich wie alle Bewerberinnen und Bewerber dem künstlerischen Wettbewerb stellen. Hierfür Kriterien zu entwickeln, die bestehenden Aufnahmevoraussetzungen und -prozedere zu reflektieren, ist Aufgabe der Hochschulen. Handlungsleitend muss dabei das Ziel der künstlerischen Exzellenz sein. Aber gerade weil das Studium an einer Kunst- oder Musikhochschule aufgrund des Klassenprinzips und der individuellen Betreuung der Studierenden ohnehin auf die Ausbildung einer kleinen Elite abzielt, sollte kein Talent verloren gehen, sondern eine optimale Förderung erhalten.

 

Kultureinrichtungen, egal ob Theater, Konzerthaus, Museum, Varieté, unabhängig ob öffentlich getragen oder privatwirtschaftlich, tun gut daran, die Besten zu zeigen. Künstlerinnen und Künstler mit körperlichen oder auch nicht-körperlichen Einschränkungen können genauso wie andere zu diesen Besten zählen. Hierfür offen zu sein, Mut zu Ungewöhnlichem zu haben, steht Kultureinrichtungen gut an.
In der kulturpolitischen Diskussion ist Inklusion ein Thema, das oft in die kulturelle Bildung einsortiert wird und vor allem unter pädagogischen Gesichtspunkten betrachtet wird. Hier den Blick zu weiten, würde der kulturpolitischen Debatte und dem Thema Inklusion insgesamt guttun.

 

Gerade der Kunstbereich zeigt permanent, dass es den „normalen“ Künstler sowieso nicht gibt. Künstler sind obsessiv und kreativ, aber niemals normal. Das gibt Künstlern mit Behinderungen gerade hier Chancen, durch ihre Leistungen zu überzeugen. Denn nichts ist langweiliger als Normalität.


Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2017.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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