Henning Mohr - 29. Oktober 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Zukunftsfragen


Wie innovationsfähig ist der Kulturbereich?

Die Coronakrise trifft die Kultur besonders – auch weil dieses gesellschaftliche Feld schon vorher eine Vielzahl von Problemen hatte, die nun wie unter einem Brennglas vergrößert sichtbar werden. Zwar gilt das Feld der Kunst und Kultur auf der Programmebene bis heute als Nährboden für Kreativität und damit auch für Innovationen. Gleichzeitig verweisen kulturpolitische Debatten eigentlich schon seit Jahrzehnten auf die vielfältigen Schwierigkeiten, die kulturelle Infrastrukturen in Bezug auf Transformationsfragen und die damit verbundenen Anpassungen an den gesellschaftlichen Wandel haben. Dabei ist gerade der Kulturbereich von den damit verbundenen Auswirkungen besonders betroffen. Die sich immer stärker abzeichnenden Zukunftstrends – wie Digitalisierung, Globalisierung oder Individualisierung – haben enorme Auswirkungen auf alle vorherrschenden Steuerungs-, Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Dementsprechend kann im Handlungsfeld der Kultur nicht einfach so weitergearbeitet werden wie bisher. Vielmehr müssen die institutionellen Voraussetzungen des Sektors auf den Prüfstand gestellt werden. Deshalb ist es absolut notwendig, dass Kulturorganisationen an ihrer strukturellen bzw. programmatischen Ausrichtung arbeiten, um weiterhin gesellschaftlich relevante Kulturproduktionen zu ermöglichen. Dafür sind flexiblere, weniger hierarchische Organisationsformen notwendig, durch die eine schnelle Adaption sich verändernder gesellschaftlicher Bedarfe sichergestellt werden kann.

 

Derzeit existieren vielfältige Faktoren, die im Kulturbereich deutlich stärker aufgegriffen und verarbeitet werden müssen – beispielsweise die Vielfalt der Gesellschaft, der Klimawandel und das damit verbundene Bedürfnis zur nachhaltigen Produktion sowie die sich immer deutlicher abzeichnenden Kultur(en) der Digitalität. Gerade im Kontext der digitalen Transformation sind neue Organisationsweisen sowie die Fähigkeit zur Innovation im Sinne der Entwicklung neuer Ideen und der Etablierung neuer Herangehensweisen ausschlaggebend. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass es eigentlich keine Trennung zwischen dem Analogen und dem Digitalen geben kann. Vielmehr überformt das Digitale permanent alle Aspekte des Analogen und verändert dadurch alle bisher bekannten institutionellen Voraussetzungen. Dadurch entstehen neue Wechselbedingungen, die auch neue künstlerische Formate ermöglichen. Daran anknüpfend muss permanent hinterfragt werden, welche Auswirkungen das Digitale auf das gesellschaftliche Handeln hat und an welchen Stellen neue Herangehensweisen bei der Gestaltung der Kultur bzw. ihrer Inhalte notwendig sind. Paradoxerweise überdauern gerade im Kulturbereich teils anachronistische institutionelle Leitbilder und Organisationsweisen. Ein wesentlicher Faktor für die hier gemeinte strukturkonservative Ausrichtung sind die Mechanismen der öffentlichen Förderung durch Bund, Länder und Gemeinden, die wenig Anreize für eine Weiterentwicklung setzen, sondern den vorherrschenden Status quo zementieren. Der größte Teil der Förderung geht dauerhaft an bestimmte Kulturinstitutionen mit den darin verinnerlichten Spartenlogiken. Übrig bleibt wenig Budget für neue, spartenübergreifend arbeitende Institutionen und die damit verbundenen innovativen künstlerischen Ausdrucksformen. Zudem ist die freie Szene mit ihren oftmals deutlich experimentelleren Zugängen budgetär weitestgehend unterrepräsentiert und erhält in Zeiten von Haushaltskrisen aufgrund ihrer fehlenden Institutionalisierung als freiwillige Leistung der Daseinsvorsorge fast keine Mittel mehr. In diesem Zusammenhang erweist es sich als zusätzliches strukturelles Problem, dass die Kürzung institutioneller Förderungen in der Regel keine fairere Verteilung ermöglicht, da diese Mittel dann einfach nur als Konsolidierungsmasse aus den Kulturetats gestrichen werden.

 

Die öffentliche Förderung legitimiert sich zudem durch den Aspekt der künstlerischen Autonomie. Eine direkte Beeinflussung der strukturellen Ausrichtungen von Kulturorganisationen durch externe Stakeholder wie Kommunen, Land oder Bund wird häufig kritisiert und das Ideal der Freiheit zur Selbstgestaltung hochgehalten. Dieses Ideal kultureller Produktionen als Selbstzweck eröffnet dem Kulturbereich erst den Raum für eine kritische Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Gleichzeitig blockiert dieser Anspruch eine fundierte Auseinandersetzung mit den sich verändernden gesellschaftlichen Legitimations- oder Relevanzkriterien. Sicherlich ist die hier gemeinte künstlerische Freiheit ein hohes Gut und absolut schützenswert. Aber sie wird als Totschlagargument ins Feld geführt und verhindert die dringend notwendige Debatte über Veränderungsprozesse im Kulturbereich. Auch der Kulturbetrieb ist geprägt von weißen Menschen aus der Mittelschicht, die tendenziell hohe Bildungsabschlüsse haben. Wenn im Kulturbetrieb also künstlerische Freiheit gefordert wird, sollte mindestens ebenso kritisch zurückgefragt werden, wessen Freiheit hier eigentlich gemeint ist. Es braucht eine Trennung zwischen Struktur und Programm. Externe Vorgaben und Unterstützungsleistungen für eine Neuausrichtung des Produktionskontexts sind mittlerweile notwendig, um zeitgemäße sowie relevante Produktionen zu stärken. Dadurch lässt sich auch das Handlungsfeld der Kulturpolitik professionalisieren, das sich – auch aufgrund der nicht akzeptierten Einflussnahme – zu einer Art Kulturförderpolitik entwickelt hat.

Kulturorganisationen basieren oftmals auf einer althergebrachten – sehr akademischen – Produktionslogik, sind nicht selten extrem hierarchisch-ausdifferenziert und verinnerlichen eine starke Machtzentrierung auf wenige Funktionsträger. Diese althergebrachten Strukturen der Ablauforganisation stehen aufgrund ihrer Tradition zwar für Stabilität, allerdings sorgen sie auch für Trägheit bei der Neuausrichtung. In diesem Zusammenhang wirken auch die Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten zwischen den unterschiedlichen Träger-, Verwaltungs- und Politikebenen als Barrieren für Veränderungen. Nicht selten werden etwa Digitalisierungsvorhaben durch bürokratische Vorgaben blockiert oder verhindert. Mahnende Beispiele sind die vielen kommunalen Kultureinrichtungen, die nur aufgrund ihrer Einbindung in die hierarchische Ordnungsstruktur der Verwaltung keine eigene Webseite und auch keine Social-Media-Kanäle betreiben dürfen. Die hier gemeinten Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten führen auch dazu, dass es im Kulturbereich an querschnitts- und damit ressortübergreifenden Prozessen mangelt, die Synergien durch vernetztes Denken und kollaboratives Arbeiten ermöglichen würden. Gerade der Aspekt der Kollaboration ist eine entscheidende Voraussetzung für mögliche Veränderungen im Kulturbereich, da in derartig organisierten Arbeitskontexten unterschiedliche Expertisen – auch außerhalb der Organisation – in den Produktionsprozess integriert werden und in der Regel auch Personen beteiligt werden, deren Ansprüche, Denkweisen oder Fähigkeiten in der Kulturarbeit noch zu wenig repräsentiert sind. Aus diesem Grund braucht es gerade heute eine starke Kulturpolitik, die neue Leitbilder, Vorgaben, Forderungen und Förderungen erarbeitet oder bereitstellt, mit denen Kulturorganisationen dazu gebracht werden können, die eigene Arbeit stärker zu überprüfen und neu auszurichten. Es bedarf veränderter Unterstützungsleistungen, wie Coachings, Beratungs- und Weiterbildungs- bzw. Kompetenzentwicklungsangebote für neues Arbeit oder Innovationen für Kulturschaffende und -institutionen. Im Kulturbereich gibt es indes – nach Abschluss der Berufsausbildung – aufgrund fehlender Budgets und Infrastrukturen kaum Möglichkeiten zur weiteren Qualifizierung für das eigene Wirkungsfeld.

 

Die Kulturpolitik versucht derzeit den Wandel im Feld der Kultur durch projektbasierte Innovations- oder Transformationsförderungen zu erreichen, die allerdings nur äußerst selten eine dauerhafte und damit nachhaltige strukturelle Anpassung des Kultursystems möglich machen – in der Regel nur dann, wenn in der Führung und bei den Beschäftigten ein Wille zur Veränderung sowie eine Akzeptanz damit verbundener Anpassungen der Strukturen vorhanden sind. Ernsthafte und langfristige Veränderungen müssen in Abstimmung zwischen den fördermittelgebenden Instanzen und den Organisationen erfolgen und auf Dauerhaftigkeit entsprechend gemeinsam entwickelter Zielstellungen ausgerichtet sein. Diese Prozesse der Abstimmung, Verhandlung und Koordination struktureller Anpassungen müssen mitsamt damit verbundener Methoden oder Strategien von den beteiligten Akteuren noch gelernt werden. Passend dazu braucht es – verstärkt durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie – einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Zukunftsfragen in Kunst und Kultur. Angesichts der Vielzahl an Verflechtungen, Pfadabhängigkeiten und Bürokratien stellt sich durchaus die Frage, wie sich der Kulturbereich dauerhaft entsprechend des gesellschaftlichen Wandels weiterentwickeln kann. Die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung wird in den kommenden Jahren einer der zentralen Schwerpunkte der kulturpolitischen Forschungsarbeit des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, das sich auf diese Weise stärker als Think Tank für die Transformation des Kulturbereichs positionieren und eine dringend notwendige Debatte über die Zukunfts- bzw. Innovationsfähigkeit des Kulturbereichs führen möchte.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.


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