Jeanine Meerapfel - 29. Oktober 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Wir wählen die Solidarität


Zur Gründung der Europäischen Allianz der Akademien

Schon lange vor mir haben andere ein Europa der Künste geträumt – darunter Heinrich Mann und Heiner Müller.

 

Seit meinem Amtsantritt 2015 verfolge ich die Idee einer europäischen Allianz der Akademien. Mein persönlicher Blick auf Europa war zunächst einer von außen. Ich wuchs als Kind in einem Vorort von Buenos Aires auf, wo ich geheimnisvolle deutsche Worte wie „Spätzle“ vom Vater oder weiche gesungene französische Töne wie „Au clair de la lune, mon ami Pierrot …“ von der Mutter hörte. Später waren es die Gedichte, die Jorge Luis Borges über europäische Städte oder Sprachen schrieb. Es war eine sehr vage Vorstellung von einem Ort, zu dem wir gehörten und doch nicht gehörten. Als ich die Journalistenschule besuchte, setzte ich mich kritisch mit Europas Kolonialgeschichte auseinander. Und dann, noch vor Beginn der argentinischen Militärdiktatur in den 1970er Jahren, ging ich zur Filmausbildung nach Deutschland, das Land, aus dem meine Familie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vertrieben worden war. Jeder hat seinen eigenen biografischen oder politischen Bezug zu Europa. Der meinige erklärt, warum ich mir Europa heute nur als offenen Kontinent vorstellen kann. Als einen Kontinent, der sich nicht vom Rest der Welt abschottet, der Verantwortung übernimmt für die verheerenden Auswirkungen und Zerstörungen der kolonialen Eroberungskriege und der dafür einsteht, zu einem gleichberechtigten Miteinander weltweit beizutragen.

 

Die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa, das Erstarken undemokratischer Tendenzen, nationaler Egoismen und Grenzziehungen, die Akzeptanz menschenverachtender Vorgänge an den Grenzen Europas geben Anlass zur Sorge.

 

Auch Deutschland bewegt sich mit dem Erstarken der AfD in eine gefährliche Richtung – und es ist kein Zufall, dass für die Unterzeichnung des Manifests der Europäischen Allianz der Akademien als Datum der 9. Oktober gewählt wurde: Es gemahnt an den Tag, an dem vor einem Jahr an Jom Kippur der erschütternde Angriff auf die jüdische Gemeinde in Halle stattfand. Denn Ereignisse wie diese scheinen uns um ein Jahrhundert zurückzuversetzen, in Zeiten, zu denen auch die Berliner Akademie der Künste und ihre Mitglieder eine beschämende Rolle gespielt haben und nicht rasch genug eine Ergebenheitsadresse an Adolf Hitler schreiben konnten. Zwischen 1933 und 1938 wurden 41 Akademie-Mitglieder aus poli-tischen oder antisemitischen Gründen ausgeschlossen.

 

Doch was kann eine Institution wie die Akademie der Künste gegen undemokratische und nationalistische Kräfte in Europa tun?
Der Historiker Yuval Harari schrieb am 20. März 2020 in der Financial Times: „In dieser Krisenzeit stehen wir vor zwei besonders wichtigen Entscheidungen. Die erste liegt zwischen totalitärer Überwachung und Stärkung der Bürgerrechte. Die zweite ist die zwischen nationalistischer Isolation und globaler Solidarität.“

 

Wir sind zur Gründung der Europäischen Allianz der Akademien zusammengekommen, weil wir die Solidarität wählen. Rund 70 Vertreterinnen und Vertreter von Kunstakademien und Kulturinstitutionen aus Ländern der Europäischen Union, Großbritannien und Norwegen nahmen vom 8. bis 10. Oktober an der hybriden Konferenz in der Akademie der Künste in Berlin teil, darunter auch Robert Menasse, A. L. Kennedy, Basil Kerski, Bénédicte Savoy und Philipp Ther, deren Vorträge noch auf YouTube und unter allianceofacademies.eu zu finden sind. Der erste Schritt, der symbolische Schulterschluss, ist geglückt. Das Manifest hat nicht nur in der deutschen Presseöffentlichkeit große Resonanz gefunden, sondern auch in den anderen beteiligten Ländern, unter anderem in Ungarn oder Spanien.

 

Nun werden wir gemeinsame Handlungsmöglichkeiten ausloten, zur engeren Vernetzung eine digitale Plattform gründen, an Themen arbeiten, uns gemeinsam für die Förderung von Kunst und Kultur auf europäischer Ebene einsetzen und – als Grundvoraussetzung eines demokratischen Miteinanders – gemeinsam die Freiheit von Kunst und Wissenschaft verteidigen.

 

Die Konferenz wurde gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Und trotzdem wird in Deutschland die Autonomie der Europäischen Allianz der Akademien respektiert.

 

Das ist ein Segen.

 

An die Fragilität gemeinsamer Werte erinnerte am Eröffnungsabend die britische Schriftstellerin A. L. Kennedy in bewegenden Zeilen:

 

„But we are still like you
Although now we must say we are not
—–
Our artists are artists of Europe and the world
Our people are people of Europe and the world
—-
We are like you
And we are a lesson
To prevent you from being like us.
Among all the other lessons.“

 

Durch die Allianz der Akademien zeigen wir, dass wir diese Lektion unbedingt lernen wollen.

 

Dieser Beitrag enthält Auszüge aus der Rede zur Gründung der Europäischen Allianz der Akademien am 8. Oktober 2020.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.

 


 

Allianz der Akademien

 

Offener Kontinent: Berliner Manifest

 

W ir erleben derzeit in einigen Ländern Europas eine Kulturpolitik, die Kunst und Kultur nur national begreift und zunehmend reglementiert. Dadurch gerät die Autonomie vieler Akademien, Museen und Kulturinstitutionen in Gefahr. Gegen diese Entwicklung möchten wir etwas tun: Bisher haben sich 60 Kunstakademien und Kulturinstitutionen aus Ländern der Europäischen Union, aus Großbritannien und Norwegen auf Initiative der Akademie der Künste Berlin zu einer „Allianz der Akademien“ zusammengeschlossen. Gemeinsam stehen wir europaweit für das Recht auf die Freiheit der Kunst ein, das in Artikel 13 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist.

 

Wofür steht die Allianz?

 

Kunst und Kultur sind wesentlich für eine funktionierende Demokratie und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir stehen für die Freiheit der Künste als Voraussetzung unserer kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebensform. Die Unabhängigkeit künstlerischer Positionen und Institutionen von politischen, nationalen, religiösen Festschreibungen ist die Grundlage der Demokratie.

 

Hier in Berlin sind wir uns – als Folge der von Deutschland verursachten Katastrophen des 20. Jahrhunderts – besonders der Verantwortung bewusst, die EU nur als Teil eines transnationalen kulturellen (Friedens-)Projekts zu denken.

 

Wir stehen für die kulturelle Vielfalt in Europa und in unseren Gesellschaften. Wir wollen an die blinden Flecken erinnern, die die europäischen Eroberungskriege in der Welt hinterlassen haben, an die kolonialen Machtstrukturen, die bis heute in vielen Ländern nachwirken.
Wir stehen mit den Künsten für einen Humanismus, der sich gegen jede Form von Rassismus, Diskriminierung und Gewalt stellt. Wir verteidigen die Menschenrechte auch für diejenigen, die nicht in Europa geboren wurden, aber hier eine Chance für das Über-leben und ein friedliches Zusammenleben suchen.

 

Unsere Forderungen & Maßnahmen

 

Wir fordern den solidarischen Schulterschluss zwischen den Institutionen für Kunst und Kultur in Europa. Nur über Grenzen hinweg können sich Kunst, Kultur und Wissenschaften im Sinne der Aufklärung entfalten. Nur gemeinsam wird es uns gelingen, diesen Freiraum für die Zukunft zu behaupten und zu verteidigen.

 

Wir tauschen transnational und unmittelbar Informationen zu kulturpolitischen Entwicklungen in unseren Ländern aus und verbreiten die Meldungen auf unseren eigenen Kommunikationskanälen und in unseren eigenen Netzwerken. Wir unterstützen den Austausch von Kunst und Künstler*innen innerhalb unserer Institutionen, insbesondere diejenigen, die durch sozio-politische Maßnahmen in der Ausübung ihrer künstlerischen Arbeit oder Meinungsfreiheit eingeschränkt sind. Wir fordern, dass Kunst und Kultur zu einem integralen Bestandteil europäischer Politik werden. Wir fordern Politiker*innen in ganz Europa dazu auf, gemäß Artikel 13 der Charta der Grundrechte der

 

EU das Recht auf die Freiheit der Kunst und die Autonomie der Institutionen zu schützen und zu verteidigen. Und – wo immer nötig – auf Rat unserer Allianz die Kunstakademien und die Künstler*innen zu unterstützen.

 

Berlin, 9. Oktober 2020


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