Start ins Gedenkjahr
1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
Älter geht nicht. Weiter als 1.700 Jahre kann man in der Geschichte kaum zurückgreifen, um der Tradition jüdischen Lebens in Deutschland gerecht zu werden. Ein bisschen waghalsig ist dieser Zeitsprung in das Jahr 321 n. Chr. schon, obwohl sich das Datum belegen lässt. Man landet auch nicht in Deutschland oder im heutigen Köln, sondern in der römischen Rheinprovinz Niedergermanien und jener Colonia Agrippina, für die man schon damals das Kürzel CCAA erfand. Dort siedelten auch keine Deutschen, sondern germanische Stämme und jenes kaiserliche Dekret, wonach Juden in Ämter der Kurie und der Stadtverwaltung berufen werden konnten, war Teil der konstantinischen Politik. Aber wir wollen gar nicht so pingelig sein. Manchmal versöhnt der Zweck eben doch mit den Mitteln. Die geografische Richtung stimmt immerhin und – die Kölner mögen verzeihen – das religiöse und geistige Zentrum des frühen aschkenasischen Judentums lag ungefähr in dieser Region. Da sind wir freilich fast tausend Jahre weiter und bei den berühmten, nach einem hebräischen Akronym benannten oberrheinischen SchUM-Städten: Mainz, Speyer und Worms. Dort entfaltet sie sich dann wirklich, die große gelehrte jüdische Tradition.
Das soll der Kölner Idee keinen Abbruch tun, auch wenn man sich bei dem gewaltigen Zeithorizont, der dort aufgemacht wird, schon fragt, ob die Werbebotschaft wohl noch die passende ist, die da auf einer blauen Straßenbahn durch die Stadt fährt: „Schalömchen“, wie man wohl sagt. Ein bisschen ernsthafter könnte es für den Nichtkölner schon sein.
Denn die Idee, die hinter diesem Gedenkjahr steht, strahlt natürlich weit über Köln hinaus: Es geht um jüdisches Leben in Deutschland. Wie leben vor allem junge Menschen ihr Judentum heute in einem Land, in dem es auf furchtbare Weise beendet erschien. Leo Baecks bitteres Wort hallt immer noch nach, dass „die Epoche der Juden in Deutschland ein für alle Mal vorbei“ sei.
Das Gedenkjahr hat sich vorgenommen, das Gegenteil zu beweisen, so schwer das nach Halle und einer wachsenden Gefährdung auch fällt. Aber es sind nicht nur die mahnenden Worte wie in der Kölner Synagoge, es sind die Menschen selbst, denen das tagtäglich gelingt. In den für die Auftaktveranstaltung gefilmten Porträts wollen sie ihren Betrachtern allesamt sagen: Seht her, wir sind Leute wie ihr! In Erinnerung geblieben ist mir der Satz eines Jungen, der auf die Frage, was ihm sein Jüdischsein denn bedeute, zur Antwort gab: Meine Geschichte.
Dieser Satz berührt eine zweite, nicht verheilen wollende Wunde. Mit den Menschen wurde auch ihre Geschichte zerstört. Das meint nicht nur die mittelalterlichen Steine, die man in Köln jetzt aus dem Erdboden gräbt. Es sind auch all die vielen Kapitel seither. Man sollte in Berlin einmal in die Mendelssohn-Remise gehen und sich das ansehen, was vom alten Bankhaus noch übrig ist. Man trifft dort auf die Ahnengalerie einer großen Familie und sieht den Stolz, mit dem sie auf die Besucher von heute blickt. Die dort von den Wänden zu uns herunterschauen mussten sich nicht erklären. Sie waren Teil der deutschen Gesellschaft; sie haben sie oftmals repräsentiert.
Vor Kurzem ist eine grundgescheite Biografie über Moses Lazarus erschienen, Moritz, wie er sich später nannte. Die wenigsten kennen ihn heute noch und wenn, dann als Erfinder einer so merkwürdigen Disziplin wie der Völkerpsychologie. Dass aber ein junger jüdischer Gelehrter aus der Provinz Posen die Begründung für Preußen schrieb, die deutsche Nation zu vollenden, das habe ich erst aus diesem Buch gelernt. Es wäre vielleicht eine akademische Fußnote geblieben, wenn diese Idee von der Nation als Bekenntnis, als „Erfindung“, wie man heute etwas abschätzig sagt, nicht ganz woanders Furore gemacht hätte. Wir zitieren gerne Ernest Renan mit seinem berühmten Wort von der Nation als einem täglichen Plebiszit. Wir wissen nur nicht, woher er das hat, dass Lazarus ihm diese Idee schenkte. Wenn man das weiß, begreift man die näheren Umstände: Am Vorabend der Reichsgründung denkt ein preußischer Jude über die Frage der Zugehörigkeit nach und wie man Teil wird am Werden der eigenen Nation. Man darf das Ende der Geschichte nicht verschweigen. Auch Lazarus wurde vom Antisemitismus des Kaiserreichs überrollt. Am Ende seines wissenschaftlichen Lebens schien ihm die Frage nach dem Wesen des eigenen Judentums wichtiger. Trotzdem verkörperte er jenen öffentlich wirksamen jüdischen Intellektuellen, von denen es in der deutschen Geschichte so viele gab. Auch sein Verschwinden aus dem deutschen Gedächtnis ist symptomatisch und gilt für viele ähnliche Biografien. Karl Wolfskehl hat das in seinem neuseeländischen Exil bitter beklagt. Er wähnte sich in Deutschland so sehr vergessen, dass niemand mehr wisse, dass es ihn jemals gab.
Die ungezählten unbekannten Lebensläufe endeten häufig im Nichts; und die Chancen stehen nicht gut, sie jemals zu Ende erzählen zu können. Durch Zufall bin ich auf Clemens Fränkel gestoßen, einem Frankfurter Maler, der im weitesten Sinne zur Münchner Schule gehört. Seine Lebensspur verliert sich 1944 in Cortina d‘Ampezzo. Die SS hatte ihn kurz vor Kriegsende noch in das Durchgangslager Fossoli verschleppt. Von dort ging der Transport weiter nach Auschwitz. Primo Levi, der dabei war, hat die Ankunft beschrieben. Wir kennen Fränkels Todesdatum nicht, wir können es nur vermuten. Aber seine Herkunft lässt sich zurückverfolgen. Er stammt aus einer alteingesessenen jüdischen Familie aus dem unterfränkischen Urspringen; seinen Stammbaum hat er in Form einer Eiche gemalt. In Fränkels Landschaften konnte man wohl geborgen sein. Er selber war es am Ende nicht.
Es ist dieses nahe Verschwinden, das uns immer wieder von Neuem bestürzt. Mehr als jede andere Form des Gedenkens weisen gerade die Stolpersteine auf diese Einzelnen hin. Es waren die Nachbarn, die Lehrer und Freunde. Fremde waren sie nicht. Der verehrte Latein- und Griechischprofessor Otto Morgenstern hat Generationen von Berliner Kindern im berühmten Schillergymnasium humanistisches Denken beigebracht. Dann hat man ihn hochbetagt und vor aller Augen die Straßen kehren lassen; schließlich wurde er abgeholt. Er hat keine Antwort mehr auf die verbriefte Frage an seine Schüler bekommen: Warum gehöre ich nicht mehr zu euch und warum nicht mehr zu diesem Land?
Wir können solche Geschichte überall finden. Sie liegen nicht 1.700 Jahre zurück. Die Archäologie, um die es hier geht, gräbt in unserer jüngsten Geschichte. Sie fördert auch nicht längst vergangene, fremde Dinge zutage, sondern abgebrochene Teile von uns selbst. Ich glaube kaum, dass der Junge, der bei der Auftaktveranstaltung dieses Gedenkjahres von seiner jüdischen Geschichte sprach, die Zeit der Römer gemeint hat. Ich glaube vielmehr, dass er wissen will, wer vor ihm hier war. Um als Jude, als Jüdin hier wieder leben zu können, braucht es auch den historischen Grund.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.
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