Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz - 25. Februar 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Plattentektonik in der Kulturpolitik


Länder übernehmen Verantwortung für die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstler

In der Geowissenschaft wird mit „Plattentektonik“ die Wanderung der Erdplatten auf dem äußeren Erdmantel beschrieben. Die Plattentektonik wird als eine der Ursachen für Vulkanismus und Erdbeben gesehen. Die heutige Gestalt und Verteilung der Kontinente geht auf die Plattentektonik zurück und nach wie vor sind die Kontinente in Bewegung. Mitunter sind die Auswirkungen der Plattentektonik an heftigen Eruptionen der Erde wie Vulkanen oder Erdbeben zu verspüren, andere „Verschiebungen“ erfolgen langsam, kaum bemerkbar, aber nicht weniger wirksam.

 

Als in der ersten rot-grünen Bundesregierung mit Michael Naumann ein Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien eingerichtet wurde, entstand – um im Bild zu bleiben – ein Erdbeben. Sattsam bekannt ist, dass einige Länder schäumten, angefeuert wurde die Auseinandersetzung noch durch Aussagen, dass die Kulturhoheit der Länder „Verfassungsfolklore“ sei. Nach den Aufregungen der ersten Jahre trat Beruhigung ein. Auch wenn es in der Kulturpolitik immer mal wieder Aufreger gab, die Länder sich beschwerten, dass zu viel in ihre Zuständigkeiten hineinregiert würde, es ihnen lieber wäre, wenn der Bund ihnen einfach Geld zur Verwirklichung der eigenen kulturpolitischen Ziele gäbe, anstatt Projekte zu fördern, die dann auch noch kofinanziert werden müssen und so weiter und so fort. Eigentlich das normale Hin und Her zwischen Bund und Ländern.

 

Anfang dieses Jahres zündete die Vorsitzende der Kulturministerkonferenz Isabel Pfeiffer-Poensgen dann eine „Bombe“. Zum einen kündigte sie an, dass die Länder Standards für Mindesthonorare verabschieden würden, um die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler zu verbessern. Allein dies ist eine Ansage und zeigt, dass die Länder als Gemeinschaft Verantwortung für die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler übernehmen wollen. Das ist gut und richtig, sind sie es doch, die zusammen mit den Kommunen den größten Teil der öffentlichen Kulturfinanzierung tragen. Hier haben es die Länder und Kommunen in der Hand, durch die Zahlung angemessener Vergütung selbst einen Beitrag zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Künstlerinnen und Künstler zu leisten. Sie sind zugleich wichtige Zuwendungsgeber und stehen in der Verantwortung, bei der Vergabe von Zuwendungen darauf zu achten, dass die Honorare angemessen kalkuliert werden. Zum anderen, und das ist die eigentliche „Bombe“, hat Isabel Pfeiffer-Poensgen berichtet, dass ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben wurde, um zu prüfen, wie selbständige Künstlerinnen und Künstler in die Arbeitslosenversicherung integriert werden können. Ferner werden bereits Gespräche mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales geführt, wie die Arbeitslosenversicherung für selbständige Künstlerinnen und Künstler umgesetzt werden kann. Nach Vorlage des Gutachtens sollen diese Gespräche vertieft werden. Und Bumms: Da verschieben sich die Platten, denn eigentlich ist die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unstreitig Sache des Bundes und die Länder werden über den Bundesrat mitbeteiligt. Überdies hat die Ampel-Koalition im Koalitionsvertrag ziemlich präzise beschrieben, was sie sich in Sachen Arbeitslosenversicherung für Selbständige vorstellt. Sie wollen den Zugang zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung erleichtern und prüfen, inwiefern der Zugang ohne Vorversicherungszeiten möglich ist. Ähnliches hatte der Deutsche Kulturrat bereits Ende 2020 gefordert und konkrete Vorschläge gemacht. Jetzt gehen die Länder in die Vorhand.

 

Nach dem Hamburger Kultursenator Carsten Brosda, der als Erster 2019 das Amt des Vorsitzenden der Kulturministerkonferenz innehatte, tritt Isabel Pfeiffer-Poensgen als vierte Vorsitzende wieder damit an, dass die Länder gesamtstaatliche Verantwortung für den Kulturbereich übernehmen müssen. Brosda hatte sich zum Ziel gesetzt, die Diskussion um das Staatsziel Kultur wieder aufzugreifen und von Länderseite aus dem Vorschlag der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Kultur in Deutschland“ neues Leben einzuhauchen. Die Enquete-Kommission hatte 2005 vorgeschlagenen Artikel 20 des Grundgesetzes um einen Abschnitt b mit dem Wortlaut „Der Staat schützt und fördert die Kultur.“ zu ergänzen. Auf Brosda folgte der bayerische Kulturminister Bernd Sibler als Vorsitzender der Kulturministerkonferenz, der sich das Thema Föderalismus vorgenommen hatte und letztlich vom Management der Coronapandemie absorbiert wurde. Auf Sibler folgte Klaus Lederer, der eigentlich Akzente in Sachen Digitalisierung plante, dann aber sowohl mit dem Berliner Wahlkampf als auch den Auswirkungen der Coronapandemie auf den Kulturbereich vollauf beschäftigt war. Isabel Pfeiffer-Poensgen hat mit Blick auf die im Mai dieses Jahres in Nordrhein-Westfalen anstehende Landtagswahl ihren Vorsitz der Kulturministerkonferenz seit Mitte des letzten Jahres vorbereitet und mit dem Thema soziale Lage eine in der Luft liegende Fragestellung in den Mittelpunkt gerückt. Ob dieses Vorgehen letztlich zu einer wirklichen Verschiebung der Platten, Bund und Länder, in der Kulturpolitik führen wird oder ob es sich eher um ein einmaliges Erdbeben handelt, wird sich beim nächsten Vorsitzenden der Kulturministerkonferenz erweisen, der oder die aus Niedersachsen stammen wird. Hier steht die Wahl im Oktober dieses Jahres an, sodass gegenwärtig unklar ist, ob Amtsinhaber Björn Thümler als Kulturminister weiter agieren oder jemand anderes das Amt innehaben wird.

 

Egal, ob einmaliges Beben oder Verschiebung, in vielen kulturpolitischen Bereich wird der Bund die Zuständigkeit behalten. Das trifft natürlich auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu, ebenso auf die Urheberrechtspolitik, die federführend im Bundesministerium der Justiz gestaltet wird, die Leitlinien für die Bau- und Stadtentwicklungspolitik liegen im wieder geschaffenen Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen. Selbst die kulturelle Kinder- und Jugendbildung wird über den Kinder- und Jugendplan des Bundes (Sozialgesetzbuch VIII) entscheidend vom Bund vorgeprägt. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat will das bürgerschaftliche Engagement stärken und tritt für die Extremismusbekämpfung ein – dies mit und in der Kultur. Für die indirekte Kulturförderung über Steuern ist das Bundesministerium für Finanzen zuständig. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr wird sich in der Digitalpolitik vermutlich um mehr als den dringend erforderlichen Breitbandausbau kümmern. Es wird ebenso wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz entscheidend die Weichen für Geschäftsmodelle in der Kultur- und Kreativwirtschaft stellen. Die kulturpolitische Wirkung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geht weit über die Initiativen der kulturellen Bildung hinaus. Die forcierte Open-Access-Strategie in der Forschungspolitik wird sich auf die Kultur- und Kreativwirtschaft, speziell die Buchbranche, unmittelbar auswirken. Die Arbeit der BMBF-geförderten Forschungsgemeinschaften und vor allem die Akzentsetzungen, ob Natur-, Ingenieur- Sozial- oder Geisteswissenschaften, zeigen ihre Wirkungen im Diskurs über Kunst und Kultur ebenso wie die Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses durch die Begabtenförderungswerke, die vom BMBF finanziert werden. Und selbstverständlich bestehen auch hier wieder enge Wechselwirkungen zu den Ländern, da sie in erster Linie für die Hochschul- und Forschungsfinanzierung verantwortlich sind und sich in der Kultusministerkonferenz abstimmen. Im Auswärtige Amt ressortiert die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Hier geht es neben der Förderung der Mittler auch um den Austausch und den Kontakt zu internationalen Organisationen wie beispielsweise der UNESCO. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) schließlich trägt die Verantwortung für die Bundeskulturpolitik im Inland. Hierzu gehören neben den großen Tankern wie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz auch Institutionen, die im Ausland wirken wie z. B. die Deutsche Welle, Künstlerresidenzen im Ausland oder auch das seit Langem beim PEN-Deutschland angesiedelte Programm „Writers in Exile“. Im Rahmen dieses Programms finden verfolgte Autorinnen und Autoren in Deutschland Aufnahme und werden von Berufskolleginnen und -kollegen unterstützt, in Deutschland Fuß zu fassen. Darüber sollten im BKM die Fäden der in den verschiedenen Ministerien betriebenen Kulturpolitik zusammenlaufen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth, MdB versteht sich darüber hinaus als eine Staatsministerin für Demokratie und will sich aus diesem Impetus heraus in weitere Debatten einmischen. Ihre Teilnahme an der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz, ihr klares Statement sich mit Dissidentinnen und Dissidenten aus Belarus treffen und damit ein Zeichen für Kultur- und Meinungsfreiheit und Demokratie setzen zu wollen sowie die Ankündigung einen neuen Fonds für verfolgte Künstlerinnen und Künstler ins Leben zu rufen, sind ebenfalls Anzeichen einer Verschiebung der bisherigen „Platten“ in der Kulturpolitik. Es könnte sein, dass die Kulturministerkonferenz mehr Verantwortung für die Kulturpolitik im Inland übernimmt und die Rahmenbedingungen gestaltet und die Kulturstaatsministerin sich verstärkt in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik engagiert und ausländische Perspektiven in Deutschland sichtbar macht.

 

Auf vielen Platten wird Kulturpolitik gestaltet. Manchmal bewusst, manchmal eher nebenbei. Spannend wird die nächsten Monate sein, ob sich die Tektonik grundlegend verschieben wird.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/22.


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