Susanne Sporrer - 30. Januar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Nichts los am westlichen Ende Europas?


Portugals Kulturlandschaft nach der Krise

Nach den ökonomischen Krisenjahren zwischen 2010 und 2014 erlebt Portugal derzeit eine Phase wirtschaftlichen Wachstums. Die Indikatoren sind ermutigend. Doch hat diese Erholung gleichermaßen die Kultur erreicht? Und wie steht es insgesamt um die Kultur dieses Landes, das 2003 den Literaturnobelpreisträger José Saramago und mit Maria João Pires eine international renommierte Pianistin hervorgebracht hat, und das mit Manoel de Oliveira einen der größten europäischen Filmemacher aufweist, der in einem Atemzug mit Luis Buñuel, Jean-Luc Godard oder Rainer Werner Fassbinder genannt wird und den Wim Wenders als sein „größtes Vorbild“ bezeichnete?

 

In einer 2013 veröffentlichten Eurobarometer-Umfrage heißt es wenig schmeichelhaft: „Die Portugiesen gehören zu den Bürgern der Europäischen Union mit der geringsten Teilnahme an kulturellen Aktivitäten, und Portugal ist das Land, in dem das größte Desinteresse am Lesen besteht.“ Nichts los also am westlichen Ende Europas? Sind also die oben genannten Kulturschaffenden lediglich Einzelphänomene in einem ansonsten kulturell wenig affinen Umfeld?

 

Um darauf eine Antwort zu finden, lohnt ein Blick in die Geschichte Portugals. Im 20. Jahrhundert war Portugal jahrzehntelang einem autoritären Regime ausgesetzt. Das Anliegen des sogenannten Salazarismus war es, eine nationale und populäre Kultur zu etablieren: „Fado, Futebol, Fátima“ – „Fado, Fußball und Religion“ war die Maxime unter António de Oliveira Salazar. Und so wurde das Land noch bis in die 1970er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gegen internationale Einflüsse abgeschottet und kulturell isoliert.

 

Die Nelkenrevolution von 1974 markierte eine weitreichende Zäsur auch in der Kulturpolitik. Hunderttausende sogenannte „Retornados“ kehrten aus den ehemaligen Kolonien nach Portugal zurück oder kamen erstmals nach Portugal, gefolgt von einer Vielzahl von Migrantinnen und Migranten, die es zu integrieren galt. All das veränderte sukzessive das von Stagnation gekennzeichnete gesellschaftliche Klima. Gleichzeitig wurden gänzlich neue kulturpolitische Ziele definiert, die in den Regierungsprogrammen seitdem weitgehend konstant blieben, wie Universalität, Demokratisierung, der Zugang zu kulturellen Gütern und Dezentralisierung. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union 1986 und der Schaffung eines Kulturministeriums 1995 verzeichnete das Land einen deutlichen Anstieg der öffentlichen Ausgaben und Investitionen in die Kultur. Dabei spielten auch Kommunen eine wichtige Rolle. Generell gewann Kultur an Sichtbarkeit: So wurde unter anderem das Netzwerk von Galerien und Museen, Bibliotheken und Kulturzentren ausgebaut, zahlreiche Festivals entstanden. Portugiesische Kunst und Kultur entwickelten sich vor allem in den beiden Metropolen Porto und Lissabon zu einem kosmopolitischen Produktionsraum. In dieser Zeit erhielt auch José Saramago den Literaturnobelpreis und Portugal konnte sich als Gastland der Frankfurter Buchmesse international als relevante Stimme der Literatur präsentieren.

 

Diese relative Hochphase der portugiesischen Kulturpolitik endete jäh durch die Wirtschaftskrise 2009/2010, in der die Kultur – wie in Krisenzeiten üblich – zu den am meisten betroffenen Bereichen zählte. Diese Phase mit ihrer rigiden Geldpolitik unter dem EU-Rettungsschirm erwies sich für den gesamten Kunst- und Kulturbetrieb Portugals in jeder Hinsicht als desaströs, eine Situation, die sich erst durch den Wahlsieg des Sozialisten António Costa im Jahr 2015, der von den Kulturschaffenden stark unterstützt worden war, langsam verbesserte.

 

Wer heute in den expandierenden Städten Lissabon und Porto ein paar Tage verbringt, gewinnt rasch den Eindruck, dass die Kulturangebote von Casa da Música, Fundação Serralves, Fundação Calouste Gulbenkian, Centro Cultural de Belém, Culturgest, MAAT oder des Nationaltheaters Dona Maria II. und vieler mehr, denen anderer europäischer Metropolen in nichts nachstehen. International, vielseitig, jung und innovativ. Dokumentar- und Kurzfilmfestivals, die ein stetig wachsendes Publikum anziehen und auf denen die anspruchsvollsten Filme noch zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauer finden; experimentelle Musikfestivals, die auch in kleineren Städten die Räume füllen oder ausverkaufte Theatervorstellungen, bei denen auch Stücke von Thomas Ostermeier und Rimini-Protokoll mit Standing Ovations gefeiert werden.

 

Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situation vieler Kunstschaffender und auch vieler Kulturinstitutionen in Portugal nach wie vor prekär ist. Und so tobt seit vielen Jahren ein für portugiesische Verhältnisse erbitterter Streit darüber, wie viel Prozent des Staatshaushalts für die Kultur bereitgestellt werden müssten. Während die einen von transversalen Budgets für die Kultur in den verschiedenen Ministerien sprechen und Kultur und öffentlichen Rundfunk budgetär zusammenlegen, pochen andere auf das Ziel, ein Prozent des Staatshaushalts nur in die Kultur zu investieren. Aber nicht nur die Höhe, sondern auch die Verteilung der Mittel ist Anlass für Diskussionen.

 

Der 2016 zum Kulturstaatsminister ernannte Kulturmanager Miguel Honrado hatte nach Beratungen unter anderen mit Vertreterinnen und Vertretern der Kulturszene das Modell der Kulturförderung in Portugal überarbeitet, das bis heute die Gemüter erhitzt. Es basiert auf der Ausschreibung von Wettbewerben für Kulturförderungen mit einem gestaffelten System von ein-, zwei- und vierjährigen Förderungen sowie einem Punktesystem. Die Bekanntgabe der Ergebnisse führt seit seiner Einführung zu Protesten. Während die einen die Transparenz der Mittelverteilung nach festgelegten Bewertungskriterien loben, kritisieren andere diese Kriterien und sprechen von einem kulturellen Kahlschlag, da der Entzug dieser Förderung auch renommierte Kulturinstitutionen existenziell bedroht.

 

Ein weiteres Grundproblem der portugiesischen Kultur ist die strukturelle Ungleichheit. Zwar steigt die Zahl der Kultureinrichtungen kontinuierlich an, doch ist eine starke Konzentration auf die beiden Metropolen Lissabon und Porto zu verzeichnen. Vor allem das Hinterland ist teilweise abgeschnitten von der kulturellen Grundversorgung. Die Förderung von Kultur in ländlichen Gebieten setzt häufig auf eine Verbindung von Kultur und Tourismus, wie das erfolgreiche Internationale Musikfestival Marvão im östlichen Alentejo und andere gelungene Festivals zeigen. Eine kontinuierliche Förderung von Kulturinstitutionen wie Museen oder gar Theatern ist jedoch eher selten.

 

Entsprechend gehören die Pro-Kopf-Ausgaben für Kultur in Portugal nach wie vor zu den niedrigsten in Europa und vieles wird künftig davon abhängen, ob Portugal seinen wirtschaftlichen Aufschwung verstärkt für die Kultur nutzen wird und welchen Wert die Entwicklung kultureller Infrastruktur und die Kulturförderung haben werden. Es wäre ein guter Zeitpunkt, denn eine junge, gut ausgebildete und internationale Generation von Kulturschaffenden sowie Künstlerinnen und Künstlern beginnt, die Kultur des Landes zu prägen, gründet Festivals, entwickelt Projekte. Ein Aufbruch, ein Umbruch? Es bleibt abzuwarten, aber zweifellos ist dies eine besonders fruchtbare Zeit für die Arbeit des Goethe-Instituts. War es während der ökonomischen Krise des Landes wichtig, den begonnenen internationalen Austausch auch weiterhin zu unterstützen, so kooperiert das Goethe-Institut heute mit einem immer größer werdenden Netzwerk aus privaten und öffentlichen Kulturinstitutionen und -initiativen, mit denen ein unvergleichbar konstruktiver Austausch möglich ist – und setzt so eine lange Tradition erfolgreicher Kulturarbeit des Instituts in Portugal fort.

 

Gegründet wurde das Institut in der Spätphase des Salazar-Regimes. Dessen Ende hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Kulturarbeit des Goethe-Instituts in Portugal und umgekehrt, war doch die Rolle des Goethe-Instituts vor und nach der portugiesischen Nelkenrevolution von großer Bedeutung für das sich im Umbruch befindende Land. Legendär ist in Portugal bis heute die Arbeit des großen Intellektuellen und Portugal-Kenners Curt Meyer-Clason, der von 1969 bis 1979 das Goethe-Institut leitete, es für die kritische Opposition öffnete und sie mit Kunstschaffenden und Intellektuellen aus Deutschland ins Gespräch brachte.

 

Heute geht es dem Goethe-Institut in Portugal um neue bilaterale und vielfach europäische Projekte und Fragestellungen, wie die Frage des Umgangs mit dem Kolonialismus, der in Portugal ebenso wenig aufgearbeitet wurde wie in Deutschland und in vielen anderen Ländern Europas. Weitere Themen sind Nachhaltigkeit und Ökologie, Migration, kulturelle Bildung oder ziviles Engagement.

 

Dabei kann sich das Goethe-Institut auch auf das wachsende gegenseitige Interesse stützen. Nach der Krise stand und steht vor allem Berlin bei vielen portugiesischen Künstlerinnen, Künstlern und Intellektuellen weit oben auf der Agenda der Orte, die für ihre Arbeit essenziell sind, und umgekehrt entdecken immer mehr in Deutschland lebende Kunstschaffende die neue Leichtigkeit, Kreativität und Professionalität der portugiesischen Kulturszene.

 

Nichts los am westlichen Ende Europas? Im Gegenteil, es verspricht, spannend zu werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.


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