Johann Hinrich Claussen - 30. Juni 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Mediendiät


Schluss mit Dauerkonsum und Dauererregung

Ein Paradox unserer Zeit lautet: Mit dem Medienkonsum nimmt auch die Medienkritik zu. Anders gesagt: Je mehr die eigene Weltsicht durch unmäßige Mediennutzung bestimmt ist, umso eher ist man geneigt, „die Medien“ für alle Übel der Gegenwart verantwortlich zu machen. Das ist ein Leiden der Corona-Zeit: Es gibt zu wenig reale Kontakte, echte Gespräche mit anderen Menschen aus Fleisch und Blut, direkte Einsichten in andere Lebenswelten und Begegnungen mit fremden Weltsichten. Stattdessen sitzt man vor Bildschirmen, liest und hört, guckt und skippt, klickt und wischt – und denkt sich: „Ach, diese schrecklichen Medien!“

 

Ich könnte es auch mit Rilke sagen: „Mein Blick ist vom Vorübergehen der Bilder / so müd geworden, daß ihn nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Medien gäbe / und hinter tausend Medien keine Welt. // Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf—. Dann geht ein Bild hinein, / geht durch der Glieder angespannte Stille— / und hört im Herzen auf zu sein.“

 

Auch hier hat die Pandemie einer eigentlich bekannten Grundtatsache des modernen Lebens eine ungeheure Dynamik verliehen: Wir leben nicht nur in dieser Welt, sondern vor allem in all den Medien, die über diese Welt berichten. Das hat unseren Horizont unendlich erweitert, kann aber auch zu Blickverengungen führen. Denn Medien sind mächtige Akteure, die eigenen Logiken folgen. Sie wollen schnell sein, um aktuell zu berichten. Sie brauchen Aufmerksamkeit, die sich am ehesten durch Lautstärke und den Appell an eher niedere Instinkte erreichen lässt: Empörungsbereitschaft beispielsweise oder Amüsierbedürftigkeit. Eigentlich weiß man nur zu gut, dass alle wichtigen Themen im Leben nicht so einfach sind, sondern komplex und mehrdeutig. Auch sind sie zumeist gar nicht so aufregend, sondern eher anstrengend. Man bräuchte Zeit und Geduld, um sie zu verstehen und eine Haltung zu ihnen zu entwickeln. Aber wann brächte man das schon auf? So wendet man sich lieber wieder den Medien zu, um gleich wieder von ihnen enttäuscht zu werden.

 

Überhaupt, wer sind überhaupt „die“ Medien, über die sich alle zu erregen scheinen. Nun gut, man kennt sie aus Zeitungen, Funk, Fernsehen und diesem Internet. Aber sie sind doch sehr unterschiedlich. Es gibt gute und schlechte, billige und ernsthafte, sachliche und tendenziöse, niederträchtige und freundliche. Es gibt z. B. „Politik & Kultur“, wo man Informationen erhält, die man andernorts nicht findet, und dies gut recherchiert und ohne billige Effekte. Leider gibt es auch die anderen. Um mit ihnen besser fertig zu werden, habe ich in der Corona-Zeit für mich ein Drei-Schritte-Programm entwickelt, das mir hilft, aus dem Dauerkonsum von Medien und der Dauererregung über Medien auszusteigen. Hier also meine Regeln für eine heilsame Mediendiät.

 

Als Erstes sollte man sich angewöhnen, Texte in dem Tempo zu lesen, in dem sie vermutlich verfasst worden sind. Es reicht also, die allermeisten Meldungen oder Kurzkommentare zu überfliegen und nach spätestens einer halben Stunde innerlich zu löschen. Das Tolle bei Twitter-Nachrichten ist, dass man sie sogar schon während des Lesens vergessen kann.

 

Als Zweites sollte man sich angewöhnen, Bildern zu misstrauen. Sie springen einen immer so an und halten doch zumeist nicht, was sie versprechen. Einen unmittelbaren Wirklichkeitseindruck vermitteln sie eben nicht, sondern nur ein vielfach gefiltertes und verzerrtes Image. Und da man schon beim Misstrauen ist, sollte man sogleich auch den eigenen Gefühlen mit größerer Skepsis begegnen, die durch bestimmte Nachrichtenbilder ausgelöst werden.

 

Als Drittes sollte man versuchen, bestimmte Medien einfach gar nicht mehr zu konsumieren. Das sagt sich so einfach und ist es auch. Ich habe es selbst erfolgreich versucht. Von heute auf morgen habe ich aufgehört, einige sehr erfolgreiche Nachrichten-Websites zu besuchen. Auch Talkshows schaue ich nicht mehr, keine einzige. Seither geht es mir viel besser.

 

Zum Schluss noch eine wichtige Unterscheidung: Diät ist etwas anderes als Askese. Sie besteht nicht in einem unmenschlichen Verzicht, sondern in der Einübung eines menschlichen Maßes. Ziel ist ein Weniger, das mehr wert ist, weil es Zeit und Raum schafft für Wichtigeres, beispielsweise für stillere Gedanken und langsamere Gefühle wie Geduld, Gelassenheit, Ergebung, Ernst, Zuneigung, Heiterkeit.

 

Das nun wäre der Segen, der auf dem Ende der Pandemie-Bestimmungen liegen könnte: Endlich geht es wieder raus, ins Freie, zu eigenen Erfahrungen und direkten Gesprächen mit echten Menschen, weg vom nur medial Vermittelten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.


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