Johann Hinrich Claussen - 4. Oktober 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Kulturort Friedhof


Wir müssen endlich einmal über Friedhöfe sprechen. Das liegt natürlich wieder an der Unheiligen Corona, aber anders als Sie wahrscheinlich denken. Nicht wegen der durch die Pandemie verursachten Todesfälle haben viele Menschen einen neuen Sinn für die Bedeutung der Friedhöfe ihrer Umgebung gewonnen. Vielmehr waren es die Spaziergänge, die während der Lockdownphasen zur einzigen Freizeitunternehmung geworden waren. Sie führten viele durch ihre Nachbarschaften, die Parks, aber eben auch auf die Friedhöfe ihrer Stadt.

 

Wer sich in meiner Heimatstadt Hamburg nicht hintenanstellen wollte, um im dichten Gedränge um die Alster zu gehen, machte sich zum Ohlsdorfer Friedhof auf, dem größten der Welt und dem Lieblingsfriedhof von Samuel Beckett – so jedenfalls behauptet man in der Hansestadt. In der grünen Weite der Anlage konnte man sich endlich frei bewegen und dabei vieles entdecken: Mausoleen, Statuen, Gemeinschaftsgräber für diverseste Gruppen, schließlich die riesigen Totenfelder für die Bombenopfer des letzten Krieges.

 

In Berlin hat man es fast noch besser. Keine Stadt, die ich kenne, besitzt so viele eindrucksvolle, geschichtsträchtige Friedhöfe mitten in ihrem Zentrum: den Dorotheenstädtischen mit den vielen Schriftstellerinnen, Politikern und Märtyrern, den Französischen der Hugenotten, den Invaliden, durch den einst die Mauer verlief, Dreifaltigkeit in Kreuzberg mit den Gräbern der Familie Mendelssohn-Bartholdy und viele mehr. Man muss gar nicht weit laufen, um in eine andere Welt der Stille, des Gedenkens und der Besinnung einzutreten. Wer aber etwas mehr Zeit hat, kann nach Süden zum größten evangelischen Friedhof, dem in Stahnsdorf, fahren, dort einen ganzen Tag herumwandern, Friedrich Wilhelm Murnau besuchen oder Hugo Distler oder – bei anderem Musikgeschmack – Dieter Thomas Heck. Auf jeden Fall aber sollte man die Stahnsdorfer Friedhofskirche besuchen, ein hölzernes Wunderwerk des skandinavisch inspirierten Jugendstils. Für viele Jugendliche ist sie der Sakralbau, der ihnen am vertrautesten ist – dank ihres Auftritts in der fantastischen Netflix-Serie „Dark“.

 

Leider gibt es keine Erhebungen darüber, aber ich schätze, dass sehr viele Menschen in den vergangenen eineinhalb Jahren ein besseres Verständnis für die Bedeutung der Friedhöfe in ihrer Nähe gewonnen haben. Das ist auch nötig, denn im Zuge einer allgemeinen Todesvergessenheit hatte man sich ihnen vielfach abgewandt, sie gemieden und vergessen. Dabei sind Friedhöfe nicht nur die Orte, an denen die Toten zu Hause sind. Sie sind Kulturorte auch für die Lebenden.

 

Zum Glück ist es gelungen, dass die UNESCO die deutsche Friedhofskultur zum „Immateriellen Erbe“ erklärt hat. Damit will sie in der Bevölkerung das Bewusstsein dafür wecken, dass Friedhöfe ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Kultur sind. Und dies in sehr vielfältiger Weise. Hier finden sich Spuren einer langen Geschichte des religiösen und künstlerischen Umgangs mit dem Tod, Bildwerke mit unterschiedlichsten Symboliken, tröstenden oder auch irritieren Sinnsprüchen. Hier kann man allein umhergehen, über die eigene Endlichkeit nachdenken und zur Besinnung kommen. Hier kann man sich aber auch treffen, gemeinsam spazieren gehen, inzwischen vielerorts auch einen Kaffee trinken oder ein Konzert erleben. Friedhöfe sind längst viel mehr als nur Bestattungsstätten. In den vergangenen Jahren ist schließlich auch das Bewusstsein dafür gewachsen, dass sie in Zeiten des Klimawandels lebensnotwendige Räume der Biodiversität geworden sind.

 

Die Friedhofsbetreiber haben es zurzeit nicht leicht. Wenigen ist es bewusst, aber in den deutschen Metropolen gibt es bei gut der Hälfte der Verstorbenen keinerlei Trauerfeiern oder rituell gestaltete Beerdigungen, weder kirchlich noch säkular, mehr. Sie werden still und stumm unter die Erde gebracht. Dafür mag es viele Gründe geben, aber diese neue Achtlosigkeit im Umgang mit den Toten und dem Tod allgemein bedroht einen wesentlichen Aspekt unserer Kultur. Denn die Menschlichkeit einer Kultur erweist sich nicht zuletzt im Umgang mit den Toten und ihren Orten, den Friedhöfen.

 

Deshalb hat die Initiative „Immaterielles Erbe Friedhofskultur“ vor Kurzem gemeinsam mit der katholischen und der evangelischen Kirche eine Broschüre und eine Wanderausstellung erstellt, die den Sinn und Wert der christlichen Friedhofskultur vorstellt. Die Arbeit daran hat mir viel Freude bereitet. Wer mehr darüber wissen oder die Broschüre erhalten möchte, wende sich vertrauensvoll an mich: kultur@ekd.de.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.


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