Johann Hinrich Claussen - 30. April 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kolonialismus-Debatte / Texte zur Kulturpolitik

Der Konflikt geht in Namibia weiter


Der andauernde Streit zwischen der Regierung und den Ovaherero und Nama

Über kaum ein kulturpolitisches Thema wird gegenwärtig so intensiv diskutiert wie die Frage, ob und wie man Objekte, die zu Kolonialzeiten in deutsche Museen gelangt sind, an ihre Herkunftsländer zurückgeben soll. Vieles scheint noch offen zu sein. Da ist es sinnvoll, einen Rückblick auf eine der ersten inzwischen erfolgten Restitutionen zu versuchen. Denn hier zeigt sich, dass nicht nur die Rückgabe selbst kompliziert ist – komplex ist auch das, was darauf folgt. Dabei schien dieser Fall für Außenstehende eindeutig zu sein.

 

In drei Schritten wurden 2011, 2014 und 2018 von Deutschland menschliche Gebeine an Namibia zurückgegeben. Es waren Schädel, einzelne Knochen und ganze Skelette vornehmlich von Angehörigen der Ovaherero und Nama, die während des kolonialen Genozids ums Leben gekommen sind. Zwischen 1904 und 1908 hatten die deutschen „Schutztruppen“ in einem Vernichtungsfeldzug diese Volksgruppen fast ausgelöscht. Ein besonders abstoßendes Detail dabei war, dass menschliche Gebeine geraubt und wie Kriegstrophäen nach Deutschland geschafft wurden, um dort an ihnen „rassenkundliche Forschungen“ zu betreiben. Sie dienten dem rassistischen Ziel, eine angeblich naturgegebene Unterlegenheit afrikanischer Menschen zu belegen. Als man sich nach vielen Jahrzehnten des Vergessens und Verdrängens endlich mit diesen menschlichen Überresten beschäftigte, konnte es keine Diskussion darüber geben, dass sie unbedingt zurückgegeben werden mussten. Einfach war dies keineswegs, sondern mit vielfältigen diplomatischen Verwicklungen verbunden. An der dritten Rückgabe wirkte dann die Evangelische Kirche in Deutschland mit, um eine rituell angemessene Übergabe zu gestalten.

 

Doch anschließend geschah etwas, das einige Beobachter dieser Übergaben erstaunen und enttäuschen dürfte. Die übergebenen Gebeine wurden nicht – wie man als Außenstehender vermutet hätte – von der namibischen Regierung an die jeweiligen Herkunftsgemeinschaften im Land zurückgegeben, um anschließend von diesen bestattet zu werden. Vielmehr wurden sie im Unabhängigkeitsmuseum in Windhoek eingelagert. Ursprünglich sollten sie dort sogar öffentlich ausgestellt werden. Dies hat zu intensiven Konflikten in Namibia geführt: zwischen der Regierung, die hauptsächlich von Vertretern der größten Bevölkerungsgruppe, den Ovambo, besetzt ist, und den Minderheitsgruppen der Ovaherero und Nama. Zudem haben Letztere, die sich allerdings auch untereinander nicht einig zu sein scheinen, massive Vorwürfe gegen Deutschland erhoben. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Es gibt nicht einmal ein Gespräch über dieses Problem. In Deutschland wurde dies bisher nicht öffentlich bekannt oder gar diskutiert.

 

Dabei wäre es wichtig – nicht um die namibischen Gesprächspartner oder die Restitutionen zu diskreditieren, sondern weil man hier Grundsätzliches lernen kann: Eine Restitution allein löst noch keine Probleme, sondern verschiebt sie auf andere Ebenen. Man wird die Konflikte um den Umgang mit kolonialem Unrecht nicht – wie es sich hierzulande vielleicht einige erhofft hatten – dadurch los, dass man so hochbelastete „Besitztümer“ wie menschliche Gebeine zurückgibt; man bleibt auch nach der Restitution und durch sie in einer postkolonialen Konfliktbeziehung.

 

Es ist ein Glück, dass ein namibischer Wissenschaftler diesen Fall in dem sorgfältig recherchierten und differenziert diskutierenden Aufsatz „The homecoming of Ovaherero and Nama skulls: overriding politics and injustices“ – sowie einem Vorläufertext – aufgearbeitet hat. Vilho Amukwaya Shigwedha, Senior Lecturer für „Public History and Themes from the Twentieth Century African History“ im Department of History and Environmental Studies an der University of Namibia, beschreibt darin, was nach der Rückgabe der Gebeine geschah oder auch nicht geschah. Mit hohen Ehren in Windhoek wurden sie jeweils begrüßt, dann aber in das Unabhängigkeitsmuseum verbracht. Zunächst spielte die Regierung mit dem Gedanken, die Gebeine öffentlich zur Schau zu stellen, um deutlich an die kolonialen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erinnern. Dagegen erhob sich ein erfolgreicher Protest von Einzelpersonen und Gruppen der Ovaherero und Nama, die darin eine pietätlose Funktionalisierung der Gebeine sahen. So wurden sie in einem Lagerraum des Museums, in der originalen „Verpackung“, eingeschlossen. Versprechungen, wonach es möglich sein sollte, dass Vertreter der betroffenen Communities und interessierte Fachleute sie in Augenschein nehmen könnten, wurden nicht eingehalten. Niemand darf sie sehen und zum Beispiel überprüfen, ob sie sachgerecht gelagert werden. Angesichts des problematischen Zustands des Museums bestehen daran Zweifel.

 

Vertreter der Ovaherero und der Nama haben dagegen protestiert, dass sie nicht die Möglichkeit erhalten, die Gebeine ihrer Vorfahren rituell zu beerdigen. Bedenkt man, dass in vielen afrikanischen Traditionen die Lebenden sich mit ihren Toten spirituell verbunden wissen, diese also keine „Objekte“, sondern in religiöser Perspektive Mit-menschen sind, erscheint dies als besonders rücksichtslos, entwürdigend und grausam. Statt sie „in Einzelhaft“ zu setzen, so Shigwedha, hätte man sie längst ihren Nachfahren – so schwer die Zuordnung auch ist – übergeben müssen, damit diese sie beisetzen, danach regelmäßig besuchen und ihren Segen empfangen können. Doch so sind die restituierten menschlichen Gebeine unfreiwillig zu „Symbolen und Instrumenten eines staatlichen Missbrauchs“ geworden. So nachvollziehbar dieses Urteil von Shigwedha ist, bleiben dem deutschen Leser jedoch die Motive und Ziele der Regierung unklar. Was gewinnt sie dadurch, dass sie die Weitergabe verweigert?

 

Aber Shigwedha weist auch darauf hin, dass – wie sollte es anders sein? – zwischen den betroffenen Communities und jeweils innerhalb ihrer keine Einigkeit besteht. Viele bestehen auf Rückgabe und anschließende Beisetzung, andere plädieren für eine – allerdings bessere – museale Aufbewahrung. Jede Äußerung ist dabei unweigerlich mit örtlichen Interessen und Konflikten verbunden: zwischen der Mehrheit und den Minderheiten, zwischen den Minderheiten, in den Communities zwischen traditionellen Anführern und anderen Meinungsträgern. So gibt es z. B.
zwei Ovaherero-Gruppen, die jeweils beanspruchen, für die gesamte Community zu sprechen, untereinander aber keinen Kontakt haben. Wer also spricht hier für wen und mit wem über was?

Doch damit sind keineswegs rein interne Angelegenheiten benannt, in die man sich aus der Ferne nicht einmischen dürfte. Im Gegenteil, Shigwedha sieht in Deutschland weiterhin einen zentralen und problematischen Akteur. Die Entscheidung, über die Rückgabe der menschlichen Gebeine nicht mit den Herkunftsgemeinschaften, sondern allein mit der Regierung zu sprechen, hat nach seiner Einschätzung für den weiteren Prozess fatale Konsequenzen. Das bei Ovaherero und Nama verbreitete Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, wird dadurch massiv verstärkt. Nach dem Slogan „Alles, was ohne uns getan wird, wird gegen uns getan“ wird das Gespräch von Regierung zu Regierung von nicht wenigen Ovaherero und Nama als Angriff erlebt. Mehr noch, Shigwedha hat den Eindruck, dass auch taktische Absichten hinter dem gewählten Verfahrensweg stehen, nämlich der Versuch der deutschen Regierung, Reparationsforderungen gar nicht erst zu einem Verhandlungsthema werden zu lassen. Als deutscher Leser kann man dies schwer einschätzen, aber man fragt sich, wie die deutsche Regierung auch bei bestem Willen anders hätte agieren sollen: Gegen den Willen der Zentralregierung, die völkerrechtlich ihr erster Ansprechpartner sein muss, kann sie doch nicht direkt mit einzelnen Bevölkerungsgruppen über eine so wichtige Frage verhandeln. Oder hätte sie nicht doch stärker darauf hinarbeiten müssen, einen direkten Zugang zu den betroffenen Volksgruppen zu finden?

 

Überhaupt scheint der Konnex von Restitution und Reparation eine Lösung erheblich zu erschweren. Das zeigt sich an einem überraschenden Detail: Inzwischen wurden auch im American Museum of Natural History in New York menschliche Gebeine aus dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika gefunden. Es sind acht Schädel, zwei davon konnten als Ovaherero identifiziert werden, zwei als San, einer als Nama, ein anderer als Damara, zwei ließen sich nicht zuordnen. In diesem Fall jedoch wurde von den Herkunftsgemeinschaften keine Restitutionsforderung erhoben. Anscheinend wollen sie abwarten, wie es mit den schon restituierten Gebeinen in Namibia weitergeht. Vielleicht erhoffen sie sich zudem einen Vorteil für den Prozess, den sie in den USA gegen Deutschland angestrengt haben: Es könnte die Jury beeindrucken, wenn sich solch krasse Zeugnisse kolonialen Unrechts in unmittelbarer Nähe befinden.

 

Das Ziel von Restitutionen wird im Englischen häufig mit dem Wort „closure“ bezeichnet. Dies bezeichnet den Abschluss einer seelischen Heilung, das Sich-Schließen einer historischen Wunde. Doch wie soll hier etwas geschlossen werden, solange nicht alle menschlichen Gebeine zurückgegeben sind, eine offizielle Entschuldigung aussteht, über Entschädigungsforderungen nicht gesprochen wird? Shigwedha bleibt deshalb skeptisch, was den sozialtherapeutischen Nutzen der Rückgabe angeht. Als deutscher Leser hat man fast den Eindruck, dass dadurch das Offen-Bleiben der Wunde nur stärker ins Bewusstsein gerückt ist. Zugleich fragt man sich, ob eine eventuelle Reparation tatsächlich die Probleme lösen würde, die sich an der Restitution zeigen. Denn auch in diesem Fall müsste geklärt werden, wer mit wem redet und wer wem etwas gibt – und wer darüber entscheidet. Ist da die Zentralregierung die richtige Ansprechinstanz oder sind hierzu die traditionellen Anführer ausreichend mandatiert – und wenn nicht, wer dann?

 

Shigwedha hat dies in einem Aufsatz vor zwei Jahren und in einer Vorstudie vor vier Jahren analysiert. Auf Rückfrage berichtet er per E-Mail, dass sich an der Problemlage seither nichts geändert hat. Seine Analyse ist also immer noch gültig.

 

Die Restitution menschlicher Gebeine nach Namibia war eine selbstverständliche Pflicht, aber sie zeitigte unbeabsichtigte Nebenwirkungen, für die es noch keine Lösung oder Linderung gibt. Damit ist die Übergabe aber keineswegs als ein Fehler erwiesen. Im Gegenteil, es ist nur so, dass man mit der Rückgabe einen wichtigen Schritt in einem komplexen Prozess getan hat, dessen weiteren Verlauf man weder zu beurteilen hat – denn das steht Deutschland nicht zu – noch beeinflussen oder gar steuern kann. Man muss mit einem Kontrollverlust zurechtkommen und zugleich in der Beziehung mit den Partnern in Namibia bleiben. Das ist gewiss keine einfache Aufgabe. Deshalb wäre es so wichtig, wenn man zumindest darüber sprechen könnte. Das aber wäre schon kirchlich nicht einfach – diese besondere Rückgabe geht auch die evangelischen Kirchen in Deutschland und Namibia direkt etwas an. Wie sollte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die namibischen Partnerkirchen darauf ansprechen? Es gibt dort drei lutherische Kirchen: jeweils eine der Ovambo, der Deutschstämmigen sowie der Ovaherero, Nama und anderer kleiner Bevölkerungsgruppen, die zudem auch unterschiedliche Missionsgeschichten und Frömmigkeitsstile repräsentieren. Wie sollte man von ihnen erwarten, dass sie sich hierüber verständigen, gar eine gemeinsame Linie finden und sie gegenüber der Regierung vertreten? Und wenn es schon kirchlich schwierig ist, wie soll es dann erst politisch gelingen? Das sind schwer zu beantwortende Fragen, die aber nicht gegen die Aufgabe sprechen, wohl aber ihre Größe und Komplexität bewusst machen.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

 

Mehr dazu:

Den Aufsatz „The homecoming of Ovaherero and Nama skulls: overriding politics and injustices“ von Vilho Amukwaya Shigwedha finden Sie in: Human Remains and Violence 4/2 (2018), 67-89 und hier

 


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