Susanne Keuchel - 30. Juni 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Klima der Angepasstheit


Gebot der Stunde oder gefährlich für die Demokratie?

„Halten Sie Abstand von 1,5 Metern und tragen Sie Ihren Mundschutz“, tönt es in regelmäßigen Abständen aus dem Lautsprecher am Bahnhof. Auf dem Bildschirm öffentlich-rechtlicher Rundfunksender blinkt links oben die Texteinblendung „Bleiben Sie zu Hause“. Hätte es die Corona-Krise nicht gegeben, wäre dies der Stoff für einen Sci-Fi-Film gewesen. Bis vor Kurzem wurde China und sein Social-Scoring, indem Bürger kontinuierlich in ihrem Verhalten überwacht und belohnt werden, wenn sie im Sinne des staatlichen Gemeinwohls agieren, als ein Schreckgespenst der digitalen Überwachung dargestellt.

 

Die Vorstellung, es gibt den einen „richtigen“ Weg zu handeln, wird zunehmend salonfähig in unserer Gesellschaft. Dies führt zu starken Polarisierungen. Auf der einen Seite beispielsweise diejenigen, die den Mundschutz als einzige Alternative erachten und Gegenmeinungen mit dem Argument begegnen, man nehme die Krankheit und den Tod Dritter billigend in Kauf, und auf der anderen Seite diejenigen, die dies als Eingriff in die demokratischen Grundrechte empfinden oder andere, die gar Verschwörungen wittern.

 

Polarisierung und der Bedarf, sich einem Lager zuzuordnen, wird durch soziale Medien befördert. In einer Zeit, wo all unsere Haltungen transparent geworden und wir kontinuierlich der Gefahr eines Shitstorms ausgesetzt sind, suchen wir Verbündete.

 

Aber wie soll Demokratie in einem Klima der Aufgeregtheit, der Polarisierung und der daraus resultierenden Angepasstheit funktionieren? Besteht Demokratie nicht im Aushandeln von Kompromissen? Und ist das Proklamieren des einen „richtigen“ Wegs im Staat nicht eine Ideologie? Brauchen wir nicht Meinungsvielfalt? Wird der öffentliche Rundfunk seiner Aufgabe gerecht, wenn er „staatliche“ Haltungen und Richtungsentscheide nicht auch kritisch kommentiert? Zugleich jedoch einseitig Stellung bezieht, wenn in den Nachrichten betont wird, dass Teile der bürgerlichen Mitte, die sich gegen die Maskenpflicht wenden, von Verschwörungstheoretikern beeinflusst seien? Statt offen zu lassen, ob nun eine eigene Meinung dahinter steht oder nicht? Darf es sein, dass ein Politiker, der das Beenden eines Ausnahmezustands ins Gespräch bringt, sofort in eine Ecke gedrängt und verurteilt wird? Was ist mit der krebskranken älteren Patientin, die lieber das Risiko des Todes durch eine Corona-Erkrankung auf sich nehmen will, als die letzten Wochen des Lebens isoliert ohne Kinder und Enkelkinder verbringen zu müssen? Lebensschutz ist wichtig! Lebensqualität sollte jedoch auch immer mit bedacht werden! Auch das Pro und Contra einer Maske und des Kontaktverbots muss in einer Demokratie offen und respektvoll miteinander diskutiert werden können!

 

Angepasstheit und blinder Regeleinhalt sichern weder den Schutz von Risikogruppen noch den der Demokratie. In einem fast leeren Bus bedarf es weniger des Tragens einer Maske, statt in der vollen Fußgängerzone, wo vielfach weder Maske noch Abstand gewahrt wird. Die Pandemieregeln zur Maske geben das so konkret nicht vor, aber der eigene Sachverstand des verantwortungsvollen Bürgers kann im Gegensatz zur Maschine situationsbedingt entscheiden! Es gilt zu wünschen, dass Medien und Künste ihre Verantwortung wahrnehmen und vielfältige Perspektiven jenseits verkrusteter Lager aufzeigen. Die neue Pandemie-Erfahrung fordert eine Gesellschaft in besonderem Maße zu Flexibilität und kreativem Handeln heraus! Es gilt daher, kontinuierlich neue Lösungswege zu entwickeln und demokratisch neue Regeln unter aktiver Einbeziehung aller Bürger auszuhandeln, die Lebensschutz, aber auch Lebensqualität in den Blick nehmen!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.


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