Susanne Keuchel - 30. Januar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Inklusion in der künstlerischen Exzellenzförderung?


Ergebnisse einer Umfrage an künstlerischen Hochschulen in Deutschland

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) fordert Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. So fordert die UN-BRK, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung haben sollen (UN-BRK, Artikel 24 (5)). Das Netzwerk Kultur und Inklusion, gefördert von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien, hat daher in Kooperation mit der Kulturministerkonferenz eine Umfrage an 49 künstlerischen Hochschulen in Deutschland durchgeführt, um bestehende Barrieren und Herausforderungen zu ermitteln. Die Umfrageergebnisse wurden im Anschluss in einer Expertentagung in der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und Landes NRW reflektiert und vertieft, beispielsweise in Gesprächen mit Studierenden mit Behinderung in der künstlerischen Ausbildung und Dozenten, die diese unterrichten.

 

Zum Status quo: Studierende mit Behinderung an künstlerischen Hochschulen

 

Grundsätzlich ist es schwierig, einen Überblick zur Situation von Studierenden mit Behinderung an künstlerischen Hochschulen zu bekommen. Zu berücksichtigen sind beispielsweise die unterschiedlichen Formen von Behinderung, die von einer Seh-, einer Gehbeeinträchtigung bis hin zu anderen körperlichen, psychischen oder geistigen Beeinträchtigungen reichen können.

 

71 Prozent der künstlerischen Hochschulen geben in der Umfrage an, dass aktuell Personen mit Behinderung an ihren Einrichtungen studieren. Die Best-2-Studie von 2018 des Deutschen Studentenwerks, die Studierende und nicht Hochschulen befragte, konnte hier differenzierter vorgehen. Laut dieser Studie studieren an künstlerischen Hochschulen deutschlandweit 0,6 Prozent Studierende mit expliziten studienrelevanten Beeinträchtigungen. Diese und eine weitere 2016 erstellte Studie, „Auf dem Weg zur inklusiven Hochschule“ im Auftrag des Sächsischen Landtages, gehen zudem davon aus, dass eine überproportional hohe Anzahl an Studierenden mit psychischen Erkrankungen, hier auch mit Essstörungen, Angststörungen oder Medikamentenabhängigkeit, an künstlerischen Hochschulen studieren, aufgrund der spezifischen Studiengang-Voraussetzungen jedoch bestimmte Behinderungsarten unterrepräsentiert sind.

 

Zur Situation der Aufnahmeprüfung

 

Da an künstlerischen Hochschulen Exzellenz gefördert werden soll, entscheiden Aufnahmeprüfungen über Zugang und besondere Begabung. Um Inklusion zu ermöglichen, existiert ein Rechtsanspruch auf Nachteilsausgleich in der Bildung. Denn Betroffenen dürfen bei Prüfungen aufgrund ihrer Behinderung keine Nachteile entstehen. Ein prominentes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit für eine Nichtberücksichtigung des Nachteilsausgleichs bei einer künstlerischen Aufnahmeprüfung ist Thomas Quasthoff. So wurde er trotz seines Stimmtalents an einer Hochschule abgelehnt, mit der Begründung, er könne aufgrund seiner körperlichen Beeinträchtigung das Pflichtfach Klavier nicht wahrnehmen. Diese Pflicht hätte jedoch im Sinne des Nachteilsausgleichs erlassen werden müssen.

 

76 Prozent der künstlerischen Hochschulen legen heute nach eigenen Aussagen die Prüfungsordnungen im Sinne des Nachteilsausgleichs flexibel aus. Der Anteil der Musikhochschulen ist hier mit 88 Prozent etwas höher – vielleicht nicht zuletzt aufgrund früherer Erfahrungen mit prominenten Bewerbern wie Thomas Quasthoff. Allerdings informieren lediglich 49 Prozent der künstlerischen Hochschulen aktiv über den Nachteilsausgleich bei Aufnahmeprüfungen. Ausbaufähig ist auch die Einbindung von Menschen mit Behinderung innerhalb der Ausschüsse zu Aufnahmeprüfungen. Nur 43 Prozent der Hochschulen tun dies aktuell.

 

Zum Stellenwert des Themas Inklusion in der Lehre

 

67 Prozent der künstlerischen Hochschulen öffnen nach eigenen Angaben bestehende Lehrveranstaltungen für Inhalte der Inklusion. Dies geschieht aktuell vor allem im Rahmen von Kooperationsprojekten mit Institutionen, in denen auch Menschen mit Beeinträchtigung gefördert werden (57%), beispielsweise mit Schulen, Kindergärten, kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ein Teil dieser Aktivitäten findet auch im Rahmen gemeinsamer pädagogischer, künstlerischer Projekte wie Chor oder Ensemblearbeit statt. Kooperiert wird dabei punktuell auch mit Pionieren im Feld der Kultur und Inklusion, hier vielfach Betroffene und betroffene Familienangehörige, die die inklusive Kulturarbeit in der Vergangenheit gemeinsam mit engagierten Künstlerinnen und Künstlern sowie Kulturpädagoginnen und -pädagogen vorantrieben und Strukturen aufbauten. Zu nennen sind hier beispielsweise das Blaumeier Atelier, das Theater RambaZamba, Atelier Goldstein, Rollenfang oder daraus entstandene Netzwerke wie Eucrea.

 

Eine systematische Einbindung des Themenfelds Inklusion in der Lehre fehlt jedoch: Allgemein geben nur etwas mehr als ein Drittel der künstlerischen Hochschulen an (39%), unter den Musikhochschulen immerhin 50 Prozent, dass sie spezielle Lehrveranstaltungen zum Thema Inklusion anbieten. Allerdings haben insgesamt nur 22 Prozent, bei den Musikhochschulen sind es 38 Prozent, Stellen bzw. Stellenanteile für die Lehre zum Thema Inklusion. Die Frage, ob innerhalb der nächsten zwei Jahre die Schaffung neuer Stellenanteile für die Lehre zum Thema Inklusion geplant ist, bejahen nur 14 Prozent der befragten Hochschulen.

 

Mehr Fortbildung und Exzellenzzentren

 

71 Prozent der künstlerischen Hochschulen, darunter 83 Prozent der Musikhochschulen, sehen jedoch einen konkreten Bedarf an Fort- und Weiterbildung für ihre Lehrenden zum Thema Inklusion. Sowohl Dozenten, die Studierende mit Behinderung unterrichten, als auch Studierende mit Behinderung beklagen, dass es keine Anlaufstelle gibt, die beispielsweise Wissen um das Musizieren mit spezifischen Beeinträchtigungen sammelt, um sie bundesweit ggf. anderen Betroffenen für die Exzellenzförderung zur Verfügung zu stellen. Oftmals stellen sich hier sehr spezifische Herausforderungen: Wie muss z. B. ein Cellobogen konzipiert werden, wenn an der entsprechenden Hand keine Finger existieren? Hier wäre ein bundesweites Exzellenzzentrum zu Fragen der künstlerischen Praxis mit Beeinträchtigung hilfreich, damit sich einzelne Betroffene nicht immer wieder selbst auf die Suche nach Lösungswegen begeben müssen. Hervorzuheben ist in diesem Sinne das Programm ARTplus – Ausbildung und Qualifizierung, das EUCREA koordiniert. Geplant ist mit fünf Bundesländern mit jeweils drei künstlerischen Ausbildungsinstitutionen zu kooperieren, um langfristig Erfahrungen in der künstlerischen Qualifizierung von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen zu sammeln. Das fünfjährige Programm wird von der Universität Leipzig wissenschaftlich begleitet.

 

Barrieren bei Kommunikation und Räumen

 

Auch räumliche Barrieren existieren. Denn künstlerische Hochschulen sind oftmals in denkmalgeschützten Gebäuden untergebracht. 26 Prozent bezeichneten ihre Einrichtung explizit als weniger gut bzw. schlecht im Kontext von Barrierefreiheit. Noch deutlichere Defizite sehen 51 Prozent der künstlerischen Hochschulen in der Barrierefreiheit ihrer Homepage wie leichte Sprache, Gebärdensprache oder Sehkontraste.

 

Fazit: Herausforderungen und Chancen

 

Um künstlerische Hochschulen inklusiver zu gestalten, bedarf es einer systematischen Aufarbeitung des Themas Inklusion in allen Handlungsfeldern: Kommunikation, Aufnahmeprüfungen, Lehre und räumliche Zugänge. Dies ist nur mit zusätzlichen finanziellen Mitteln möglich. Vorteilhaft wäre mehr Wissenstransfer zwischen Pioniereinrichtungen im Feld der Künste und Inklusion und künstlerischen Hochschulen. Hilfreich wäre auch eine Wissensbündelung an bundesweiter zentraler Stelle, damit nicht jeder Einzelne – Studierende und Dozenten – eigene individuelle Lösungswege für die Ausübung künstlerischer Praxis suchen muss.

 

Natürlich kann Inklusion an künstlerischen Hochschulen nur ein erster Schritt sein. Inklusiver werden muss beispielsweise auch die Breitenförderung in Kindheit und Jugend, hier auch Exzellenzwettbewerbe wie Jugend musiziert. Entscheidend aber ist anzufangen. Die künstlerischen Hochschulen legen nicht nur die personelle Grundlage für den künstlerischen Profibereich, sondern auch für die pädagogische Breitenarbeit und Exzellenzförderung.

 

Die Umfrage legt nahe, dass sich ein erstes Bewusstsein für das Thema Inklusion an künstlerischen Hochschulen gebildet hat. Dieses resultiert möglicherweise, neben der zunehmenden Sichtbarkeit von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung, auch aus Erfahrungen mit Kunstschaffenden, die im Lebensverlauf erkrankten, wie Jörg Immendorff, der in späten Jahren aufgrund des Nervenleidens ALS seine Kunst ausschließlich mithilfe von Assistenten aufs Papier dirigierte, oder die Tanzstudierende an der Palucca Hochschule für Tanz, Sophie Hauenherm, die im Verlauf ihres Studiums eine inkomplette Querschnittlähmung erlitt und erstmals an dieser Hochschule eine Bachelorprüfung im Rollstuhl absolvierte.

 

Von einer inklusiven Öffnung des professionellen Kulturbereichs profitiert nicht nur dieser Bereich. Wenn auf Bühnen, in Film und Fernsehen eine inklusive Künstlerbesetzung als „Normalität“ gelingt, dann hat dies eine Strahlwirkung auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche. Der Sport engagiert sich hier schon länger sehr erfolgreich, allerdings in der Öffentlichkeit eher in Parallelsystemen wie den Paralympics. Im Kulturbereich gibt es keine Norm, keine richtigen und falschen Wege, sondern Exzellenz im Rahmen vielfältiger Ausdrucksmöglichkeiten. Dies beweisen Künstlerpersönlichkeiten wie Thomas Quasthoff oder Gerda König und ihr Ensemble Din A 13 mit ihrem internationalen Standing. Kunst und Kultur könnten daher auch im Feld der Inklusion unter Beweis stellen, dass sie ein Motor für gesellschaftliche Transformation sind.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.


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