Johann Michael Möller - 28. Oktober 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

„Ich werde Euch alle überleben“


Günther Rühles Tagebuch

Wenn es so etwas wie eine radikale Gegenwart gibt, dann erleben wir sie heute. Die lang vertrauten Bilder unserer Geschichte werden gerade übermalt, die Erzählungen umgeschrieben; eigentlich gibt es sie schon gar nicht mehr. Von einem neuen Historikerstreit 2.0 ist die Rede. Die Gesellschaft wird partikular und die Erinnerung auch.

 

Unsere heutigen Vorstellungen passen sich ihre Vergangenheit an. Über die störenden Reste wird lieber geschwiegen. Und schweigen sollen vor allem die alten weißen Männer.

 

Immer wieder stehe ich vor dem Grab von Joachim Fest auf dem katholischen St. Matthias-Friedhof in Berlin. Ernst Nolte liegt nur ein paar Meter weiter entfernt. Die beiden großen Protagonisten des ersten Historikerstreits, Söhne katholischer Lehrer, hat am Ende wohl ihre Konfession wieder zusammengeführt. Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen; und was für ein Unterschied in der Anmutung der beiden Gräber. Nolte, der Ausgestoßene, der sich selbst immer weiter von seinem Land entfernt hatte, starb im Bewusstsein, zur Unperson geworden zu sein. Ein paar Blumen liegen auf seinem Grab.

 

Um Joachim Fest ist es einsam geworden. Schon die Kopie des berühmten Klauerschen Schlangensteins aus dem Ilmpark in Weimar, die sein Grab dominiert, zeigt, dass dies gar nicht der Ort ist, an den er wirklich gehört. Ich habe dort lange keine Blumen mehr gesehen; und in der dunkler werdenden Jahreszeit fehlt auch ein Licht. Das Leben vorüber, vergangen.

 

Ich musste an diese beiden Gräber denken, als ich im Tagebuch des greisen Theaterkritikers Günther Rühle den trotzigen Satz las: „Ich werde Euch alle überleben.“ Dieses Tagebuch eines alten Mannes, der zum eigenen Erstaunen immer noch älter wird, ist die sorgfältige, fast skrupulöse Beschreibung des fortschreitenden körperlichen Verfalls; aber es ist auch das Dokument einer schier unglaublichen Lebenskraft und des Willens zum Dasein. Der inzwischen fast gänzlich erblindete Günther Rühle, der seinen Weggefährten mitteilt, dass er ihre Briefe und Bücher nicht mehr lesen kann, will weiterhin teilhaben am Leben. Das Tagebuch seiner letzten Monate, er nennt es selbst ein „merkwürdiges“, ist eine der tief berührenden Neuerscheinungen geworden in diesem noch immer von Corona gezeichneten Bücherherbst.

 

Rühle hat seine Weggefährten und Kontrahenten fast alle überlebt, die seinen langen Lebensweg als Kritiker, als Feuilletonchef, Schauspielintendant, Herausgeber der Werke Alfred Kerrs und in summa „berühmtester Theaterchronist“ seines Jahrhunderts begleiteten. Und er ruft heute, fast hundertjährig, in sein leer gewordenes Haus hinein, das ihm die merkwürdigsten Antworten gibt. Selbst mit der Stille kann Rühle noch sprechen.

 

Nur gelegentlich tauchen Erinnerungsfetzen in den Notizen auf, werden Erlebnisse beschrieben, meist Lebenseinschnitte, die offenbar immer noch schmerzen. Die erzwungene Ablösung von der Funktion des Theaterkritikers in der FAZ, auf die der damals neue Herausgeber, Joachim Fest, bestand, der ihn, wie er spöttisch vermerkt, für einen „wild gewordenen Kleinbürger“ hält; der Verlust eines Teils der Deutungshoheit über das aktuelle deutsche Theater; die mühsame Beherrschung bei der Lektüre des neuen episodenhaft plaudernden Kritikerstils seines Nachfolgers Georg Hensel; der Wechsel an die Spitze des Frankfurter Schauspielhauses und der in jeder Hinsicht existenzielle Kampf um die Inszenierung des Fassbinder-Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“; eine bestürzende Erfahrung, die sich heute wie die Vorwegnahme der gegenwärtigen Entrüstungskultur liest.

 

Doch Rühle notiert keine Episoden; es blitzt in ihm auf, was ihn gerade beschäftigt; seine Tagesform ist unkalkulierbar geworden. Er bezieht Stellung, nimmt wahr, auch wenn es sein altes Leben nur in der Erinnerung noch gibt. Am Neujahrsmorgen notiert er die Stille und denkt über die stillgestellte Welt in den Zeiten der Pandemie nach: „Die Masken nehmen den Menschen ihre Gesichter, sie vereinheitlichen sie.“

 

Wer ihn kennt, sieht ihn noch jetzt mit der alten Rastlosigkeit schreiben; sieht das immer leicht gerötete Gesicht, das anzeigt, dass es gerade wieder um die alles entscheidenden Fragen geht. Näher am Existenzgrund kann ein Leben wohl gar nicht mehr sein. „Es bellt der arme Hund in einem“, heißt es unter dem Datum des 3. Februar 2021: „Man könnte, man wollte, man möchte sich das Messer zwischen die Rippen stoßen, das Herz erstechen und frisst dann doch weiter an den Resten des Lebens.“

 

Vom Eismann ist viel die Rede, der ihm die gefrorenen Mahlzeiten bringt. In früheren Redaktionszeiten war es die Schweinshaxe, die es in der Werkskantine der Frankfurter Allgemeinen in der Hellerhofstraße gab. Mir ist eine dichtgedrängte Feuilletonkonferenz noch in lebhafter Erinnerung, in der für den zu spät gekommenen Korrespondenten, Graf Razumovsky, kein Stuhl und kein Platz auf der Fensterbank mehr frei war. Worauf der den Papierkorb Rühles umdrehte und der abgenagte Knochen einer Schweinshaxe kullerte in den Raum. Sie lag da und Rühle sprach übers Theater.

 

Doch sein Tagebuch hängt nicht Erinnerungen nach. Was Rühle beschäftigt, was ihn quält, ist das allmähliche Versagen der Lebensfunktionen; der Verlust der Selbständigkeit, die bittere Einsicht, in fast allen Verrichtungen auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein; den Lebensradius immer enger ziehen zu müssen, und am bedrückendsten: das Sehvermögen zu verlieren, blind zu werden vor der Welt und vor den eigenen Büchern. Die große dreibändige deutsche Theatergeschichte nicht mehr zu Ende bringen zu können, die Vollendung dieses Hauptwerks anderen überlassen und in Wahrheit ausliefern zu müssen. „Wenn die Augen verlöschen, der Leib vergeht“, heißt es in einer Eintragung vom Oktober des vergangenen Jahres, „wo bleiben dann die Gedanken“.

 

Auch wenn er sie selbst kaum mehr niederschreiben kann, so formuliert Rühle doch unverdrossen am eigenen Leben. Und bei den kläglichen Versuchen, noch die Umrisse wahrnehmen zu wollen, begreift er, was es heißt, bei den letzten Fragen zu sein. Von heiliger Nüchternheit möchte man sprechen. Doch Rühle ist viel gelassener. Er recherchiert jetzt sich selbst, ist sein eigener Gegenstand geworden. Das schafft Distanz und Intimität zugleich. Dieses Tagebuch ist kein Dokument der Verzweiflung, Ermattung, Resignation. Auch wenn es solche Phasen in Rühles Tagesablauf schon gibt. Aber die alte journalistische Neugier, sich noch auf die allerletzten Schliche zu kommen, verschafft diesen Notizen ihre enorme Präsenz, zeigt das Leben im Leben, das nicht mehr an Erzählungen hängt. Von einer „Existenzpartitur“ hat der Philosoph Thorsten Jantschek gesprochen. Man hat ihn auch einen „letzten Zeugen für damals“ genannt. Aber das trifft nicht den Kern. Eigentlich schlägt Rühle nur ein weiteres Arbeitskapitel auf, von dem noch nicht einmal gesagt ist, dass es sein allerletztes sein wird. Das neue Thema ist jetzt das Veralten im Alter; sein Ableben ist da noch lange nicht dran. Plötzlich verstehe ich besser, wie Rühle einst Theatergeschichte geschrieben hat. Er hat nicht von den toten Dingen berichtet; er uns zu Zeitgenossen gemacht immerzu drängender Fragen.

 

Dieses Buch des Jahres, so liest man bei Moritz Rinke, stamme von „einem alten weißen Mann“. Ich neide ihm eine solche Formulierung, weil sie so lapidar und entwaffnend ist. Man möchte all jenen, die das Leben der Älteren so leichtfertig nehmen, dieses merkwürdige Tagebuch geben. Unsere Zeit hat inzwischen viele Erinnerungen. Aber die dieses sagenhaft alt gewordenen alten Mannes gehört ganz unverzichtbar dazu.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.


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