Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz - 28. November 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Heimat-Identität / Texte zur Kulturpolitik

Heimat(en)


Zusammenhalt in Vielfalt gelingt

Vor 56 Jahren im Februar 1962 stellten 26 Filmemacher in Oberhausen anlässlich der 8. Oberhausener Kurzfilmtage das Oberhausener Manifest unter dem Titel „Papas Kino ist tot“ vor. Die Oberhausener Kurzfilmtage, die vom damaligen Leiter der Volkshochschule, dem legendären, erst vor wenigen Wochen verstorbenen Hilmar Hoffmann aus der Taufe gehoben wurden, boten ein Forum für jene nach vorne drängenden Nachwuchsfilmer, die sich für neue ästhetische Sichtweisen und ein künstlerisches Kino jenseits des Unterhaltungskinos einsetzten. Denn „Papas Kino“, dessen Tod verkündet wurde, zeichnete sich unter anderem durch Heimatschmonzetten aus.

 

Heimatschmonzetten, die in Westdeutschland auf viel Zuspruch beim Publikum trafen, weil sie offenbar ein Gefühl bedienten. Eine Sehnsucht nach Heimat, nach Unversehrtheit und nach Ordnung. Denn in den 1950er Jahren lebten viele Menschen in Deutschland fern ihrer Heimat. Sie hatten ihre Heimat als Flüchtlinge verlassen oder waren infolge der Konferenz von Potsdam aus Ostmitteleuropa vertrieben worden. In der DDR wurden sie als „Umsiedler“ bezeichnet und infolge der Einbindung der DDR in den Einflussbereich der Sowjetunion sowie später des Warschauer Paktes erhielten sie keine besondere öffentliche Aufmerksamkeit. In der Bundesrepublik fanden Heimatvertriebene teilweise im „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ eine politische Heimat und konnten nicht zuletzt durch die Beteiligung an CDU-geführten Regierungen mit dem sogenannten Lastenausgleich Entschädigungszahlungen durchsetzen. Die von den Regierungen Konrad Adenauers vorangetriebene Westbindung und der Kalte Krieg machten es immer unwahrscheinlicher, dass aus Ostmitteleuropa geflohene oder vertriebene Deutsche wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der beginnenden Versöhnungs- und Entspannungspolitik durch SPD-geführte Bundesregierungen wurde klar, dass diese Heimat für immer verloren war. Zugleich ermöglichte unter anderem das Bundesvertriebenengesetz die Pflege des kulturellen Erbes der Heimatvertriebenen.

 

Doch eine weitere Gruppe darf im Flüchtlings- und Vertriebenentableau im Deutschland der Nachkriegszeit nicht fehlen, die „Displaced Persons“. Unter diesem Begriff, kurz DP genannt, wurden Juden und Zwangsarbeiter zusammengefasst, die die Vernichtungslager der Nazis überlebt und nun erneut in Lagern zusammengefasst untergebracht wurden. Die Mehrzahl von ihnen, insbesondere die jüdischen Überlebenden der deutschen Vernichtungslager, konnte oder wollte nicht in ihre alte Heimat zurück. Sie lebten in ehemaligen Kasernen oder auch Konzentrationslagern. Erst im Jahr 1961 wurden die letzten DP-Camps aufgelöst.

 

Das Deutschland der Nachkriegszeit ist alles andere als ein heimeliger Ort. Es ist gekennzeichnet durch Verlust an Integrität, an Menschlichkeit, an Heimat. Der Heimatfilm zeichnet die Schimäre einer heilen Welt – nach der sich sicherlich so mancher zurücksehnt, die durch den von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch jedoch neu bewertet werden muss.

 

Die Filmrebellen von Oberhausen wollten ein anderes Deutschlandbild zeigen. Ein Deutschlandbild, das die Risse, die Wunden zeigt und sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Nicht das Zukleistern und Übertünchen, sondern sich stellen. Und dieses in einem Land, in dem es in den 1950er und 1960er Jahren vor allem um eines ging, den wirtschaftlichen Aufschwung. In der Bundesrepublik verlief das sogenannte Wirtschaftswunder so gut, dass bereits im Jahr 1955 das erste Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte geschlossen wurde. Bis 1968 schloss Deutschland neun Anwerbeabkommen, 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien, 1960 mit Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Südkorea, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1968 mit Jugoslawien. Die angeworbenen »Gastarbeiter« wurden vor allem als günstige Arbeitskräfte gesehen. Sie schufteten in den Gruben, in Werken, auf dem Bau und in Krankenhäusern in einfachen Tätigkeiten. Deutschkurse oder Integration waren nicht vorgesehen. Die Katholische Kirche war für die katholischen „Gastarbeiter“ da. Die Hinterhofmoscheen der muslimischen „Gastarbeiter“ kümmerten wenige.

 

Als Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre jüdische Kontingentflüchtlinge aus Osteuropa nach Deutschland kamen, wuchs die Zahl der Mitglieder in den jüdischen Gemeinden und die vergleichsweise kleinen Gemeinden erbrachten eine enorme Integrationsleistung, die manche vor Zerreißproben führten.

 

Wenn also von Heimat oder vielleicht auch Heimaten die Rede ist, lohnt es sich, sich zu klar zu machen, worüber gesprochen wird. Manch einer mag vielleicht sehnsuchtsvoll an den Heimatfilm der 1950er Jahre denken, doch der ist nichts anderes als auf Zelluloid gebannte Sehnsucht, nach etwas, das es nicht gibt und in dieser Form auch nie gab.

Deutschland ist für viele Menschen Heimat, zunächst für jene, die hier geboren wurden, hier zur Schule gehen, arbeiten, leben, Familien gründen und dies ganz unabhängig davon, ob die Heimat ihrer Vorfahren in Pommern, in der Ukraine, in Sizilien oder auch in Anatolien war. Die großen deutschen Nachkriegsschriftsteller wie Siegfried Lenz oder Günter Grass haben es vermocht, jene deutsche Welt zu tradieren, die nun polnisch ist. Ihr unverwechselbares Idiom, das ältere Menschen noch erkennen mögen, wird in einigen Jahren nur noch als Ton- und Filmdokument überleben. Genauso wie Günter Grass und Siegfried Lenz über ihre Heimat schrieben, gibt es heute Autoren und Filmemacher, die sich mit der nicht deutschen Heimat ihrer Eltern auseinandersetzen und so zu unverwechselbaren Stimmen der deutschen Kultur geworden sind, sei es lustig, sei es leise, sei es melancholisch. Heimat ist ein imaginärer Ort.

 

Deutschland ist aber auch Heimat für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Diese Heimat kann, muss aber nicht temporär sein. Das deutsche Asylrecht, das in den letzten Jahrzehnten mehrfach geändert und eingegrenzt wurde, speist sich in seiner Grundidee aus der Erfahrung vieler Deutscher, die verzweifelt und oft erfolglos in anderen Ländern Asyl vor Verfolgung durch das NS-Regime suchten.

 

Die Erfolgsgeschichte Deutschlands ist, dass dieses Land Heimat wurde. Es ist Heimat für eine Schriftstellerin wie Hatice Akyün, deren aus der Türkei stammender Vater hart in den Zechen des Ruhrgebiets arbeitete. Es ist Heimat für Wladimir Kaminer, der aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kam und ein viel gelesener deutscher Autor ist. Es ist Heimat für Adriana Altaras, deren aus Jugoslawien stammende Eltern die jüdische Gemeinde in Gießen wiederaufbauten. Viele andere Beispiele ließen sich nennen.

 

Dass die überwiegende Zahl an Deutschen gegenüber Flüchtlingen und Gestrandeten Empathie empfindet und zu großer Hilfsbereitschaft bereit ist, zeigte sich nicht zuletzt im Jahr 2015. Das sehr große ehrenamtliche Engagement machte und macht es möglich, dass Menschen, die aus Krieg und Not flohen, in Deutschland – und sei es vo­rübergehend – eine Heimat finden.

 

Wenn heute von Heimat die Rede ist, sollte das Bild einer Heimat des Zusammenhalts in Vielfalt im Vordergrund stehen. Und vor allem sollte gezeigt werden, dass dieser Zusammenhalt in Vielfalt in großen Teilen gelingt. Dieses Deutschland, das in Anerkenntnis seiner Vergangenheit Vielfalt lebt, das ein guter Nachbar ist, das die europäische Einigung als Chance und nicht als lästige Pflicht sieht, ist ein Grund, stolz auf Deutschland zu sein. Eine solche Heimat distanziert sich klar und unmissverständlich von Populismus und Fremdenhass. Dass Deutschland wieder ein anerkannter Partner in der Staatengemeinschaft ist, ist das Werk der in Deutschland lebenden Menschen, egal wo ihre Vorfahren herkamen und ganz unabhängig davon, ob sie Christen, Juden, Muslime, Buddhisten, Agnostiker oder Atheisten sind. Zusammenhalt in Vielfalt gelingt – das viel öfter zu sagen, wäre ein gutes Signal für unsere Heimat.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018.


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