Sönke Simonsen - 29. Oktober 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Fossilien und Recht


Warum unser paläontologisches Naturerbe bedroht ist und wie wir es retten können

Fossilien sind Zeugnisse der Erdgeschichte. Sie verraten uns viel darüber, wie sich die Evolution auf unserem Planeten vollzogen hat. Als stille Dokumente geologischer sowie klimatischer Veränderungen im Verlauf der Erdgeschichte und zu Stein gewordene Zeugen dramatischer Massensterbeereignisse werden sie von Forschern zum Sprechen gebracht. Im Hinblick auf aktuelle Themen wie Klimawandel und Biodiversitätsforschung sind Fossilien relevanter denn je – und damit auch die Wissenschaft, die sich mit ihnen beschäftigt: die Paläontologie.

 

Wer nicht gerade selbst zu den kaum mehr als 500 Berufspaläontologen und den wenigen 1.000 Amateurpaläontologen in Deutschland zählt, dem begegnen Fossilien im Alltag nicht allzu oft. Nur für regelmäßige Besucher von Naturkundemuseen oder Liebhaber der hierzulande traditionsreichen Mineralien- und Fossilienbörsen stellt sich dies etwas anders dar. Lediglich herausragende neue Funde, z. B. von Dinosauriern, haben eine weit über den Fachbereich hinausreichende Strahlkraft und finden oft ein solch beachtliches Medienecho, dass weite Teile der Bevölkerung davon erreicht werden.

 

Haben Sie sich selbst einmal auf die Suche nach Fossilien gemacht und ein Fossil gefunden? Nein? Schade, denn sonst wären Sie vielleicht auch Paläontologe geworden. Die meisten Paläontologen kamen in ihrer Kindheit oder Jugend durch Zufallsfunde in Steinbrüchen, Tongruben, auf Baustellen oder in Naturaufschlüssen mit Fossilien in Berührung und konnten sich der Faszination fortan nicht mehr entziehen. Es ist ein Schlüsselerlebnis, einmal ein viele Millionen Jahre altes versteinertes Tier oder eine Pflanze als erster Mensch überhaupt zu entdecken. Durch aktives Erleben wird das Interesse an Geowissenschaften geweckt und aufrechterhalten.

 

Das unvergessliche Erlebnis, selbst ein Fossil zu finden, ist heutzutage immer weniger Menschen vergönnt. Dort wo keine Fossilien gesammelt werden dürfen, werden sie z. B. in Bergbaubetrieben mit ihrem Muttergestein zu Zement oder Ziegeln verarbeitet. Andernorts zerfallen sie durch Verwitterung an der Oberfläche, etwa in unter strikten Denkmalschutz gestellten alten Steinbrüchen. Nicht geborgene Fossilien sind für immer für die Wissenschaft und die Nachwelt verloren. Rhetorische Frage: Wird hierdurch der Schutzzweck der Denkmalschutzgesetze erreicht?

 

Doch warum dürfen Fossilien unter solchen Umständen vielerorts nicht mehr gesammelt werden?

 

Schuld daran ist unter anderem eine empfindliche gesetzliche Überregulierung, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht wahrt und dadurch ihre hehren Ziele verfehlt. Dieses hat – nicht absichtsvoll, wohl aber faktisch – das sozialethisch wünschenswerte Bergen, Sammeln und Erforschen von Fossilien nach und nach in eine rechtliche Grauzone gerückt.

 

Ein großes Problem unserer Zeit ist, dass viele Industriebetriebe an betriebsfremde Personen keine Betretungsgenehmigungen mehr erteilen, da sie – trotz Bereitschaft zur Unterzeichnung von Haftungsausschlusserklärungen – fürchten, bei etwaigen Unfällen zu haften. Wird keine Genehmigung erteilt, ist für Geowissenschaftler kein legaler Zugang zur Ressource, dem geologischen Aufschluss, möglich. Hier müsste dringend Rechtssicherheit für alle Beteiligten geschaffen werden, denn Paläontologen benötigen flächendeckend Zugang zu den geologischen Aufschlüssen des Landes: nach Voranmeldung, in Eigenverantwortung und selbstverständlich nicht zulasten der Bergbaubetriebe, sondern in gutem Einvernehmen mit den Betrieben und ohne deren Arbeiten zu stören.

 

Vor rund vier Jahrzehnten führten nahezu alle Bundesländer Denkmalschutzgesetze ein, die das gezielte Suchen nach Fossilien verbieten bzw. unter einen an enge Voraussetzungen geknüpften Genehmigungsvorbehalt stellen. Der Gesetzgeber arbeitete die Paläontologie als vermeintliche Schwesterdisziplin der Archäologie in die Gesetze ein und stülpte ihr die für diese erarbeiteten Regeln über. Paläontologische Expertise beim Erarbeiten dieser Gesetze – Fehlanzeige. Die traurige Folge: Die Gesetze schufen Konflikte zwischen Denkmalpflegern, Wissenschaftlern und Sammlern, in deren Folge in einigen Bundesländern bis heute Fossilien, die eigentlich geborgen werden könnten und sollten, verloren gehen.

 

Im Jahr 2016 trat noch das bundesweit unter unterschiedlichen Aspekten heiß diskutierte Kulturgutschutzgesetz hinzu. Fossilien werden hierin erstmals zu den Kulturgütern gerechnet und ihr grenzüberschreitender Transfer sowie der Handel somit denselben Regeln unterworfen, wie jener mit klassischen Kulturgütern. Da viele Staaten pauschale Ausfuhrverbote für Kulturgut unter Einschluss von Fossilien haben und keine Mühe investieren, z. B. massenhaft auftretende Fossilien davon auszunehmen, sind Paläontologen und Sammler beim Importieren in den letzten Jahren sehr zurückhaltend geworden. Was in den allermeisten Herkunftsstaaten bei der Ausfuhr niemanden interessiert, könnte einem heute bei der Einfuhr in Deutschland „auf die Füße fallen“.

 

 

Eine jüngste Stilblüte der Überregulierung schaffte es europaweit in viele Gazetten: Der bekannte englische Naturfilmer Sir David Attenborough schenkte Prinz George einen fossilen Zahn, den er in der 1960er Jahren auf Malta gefunden hatte. Daraufhin forderte der Kultusminister von Malta das Fossil zunächst zurück, bis den Maltesern auffiel, dass ihr den Export verbietendes Gesetz erst 2002 in Kraft gesetzt worden ist. Es ist beinahe schade, dass das Politikum damit bereits beigelegt wurde, weil hier die Chance bestanden hätte, in einer öffentlichen Debatte herauszuarbeiten, dass derartige Haizähne in Malta so zahlreich vorkommen, dass Malta seinen Eigenbedarf leicht stillen könnte, wenn es selbst Bemühungen unternähme, das eine oder andere derartige Fundstück zu bergen. Es handelte sich mitnichten um eine wissenschaftliche Rarität, wohl aber um ein wirklich schönes und geeignetes Geschenk für einen Siebenjährigen.

 

Doch zurück nach Deutschland. Hier gibt es nun einen Silberstreif am Horizont: über 1.000 Paläontologen und Amateurpaläontologen aus dem deutschsprachigen Raum haben sich im September 2020 mit einem Weckruf an die Politik gewendet. Universitätsprofessoren, Naturkundemuseumsdirektoren und -kustoden sowie Amateurforscher fordern in einem ersten Schritt die Überarbeitung des paläontologischen Denkmalschutzes im Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo sich auch die paläontologischen Denkmalpfleger Verbesserungen der Rechtslage wünschen. Die Unterzeichner des Briefs möchten ihren Vorstoß gleichzeitig als bundesweiten Denkanstoß verstanden wissen.

 

Innerhalb der Paläontologie-Fangemeinde kennt man die Problemstellungen seit Jahren und hat auch einen Blick auf die Entwicklungen in anderen Staaten. Für Paläontologen sind Ländergrenzen unbedeutend, schließlich sind diese erst lange nach der Entstehung der Fossilien am Reißbrett entworfen worden. Wer einen groben Gesamtüberblick über die paläontologischen Spielregeln in verschiedenen Staaten der Erde hat, entwickelt mit der Zeit auf Basis von deren Auswirkungen ein Gespür dafür, wie die bestmögliche Balance aus Restriktion und Freiheit aussieht.

 

Es ist geradezu abenteuerlich, dass sowohl innerhalb Deutschlands als auch innerhalb der Europäischen Union derart eklatante Unterschiede in der Gesetzgebung bestehen. In Italien gilt, auf das Jahr 1939 – mithin die Regierungszeit des Diktators Benito Mussolini – zurückgehend, ein absoluter „Schutz“ von Fossilien, der paradoxerweise bewirkt, dass Neuentdeckungen stets illegal sind. In Italien rangiert die Paläontologie nach acht Jahrzehnten ohne großen Nachschub an Funden heute nahe der Schwelle zur Bedeutungslosigkeit. Ähnlich trist sieht es in Spanien aus.

 

Die Niederlande, England – wenngleich seit Kurzem nicht mehr Mitglied der EU – oder das Bundesland Bayern sind dagegen weltweite Spitze in Sachen paläontologische Forschung. Sie bieten Forschern und Sammlern maximale Freiheit – eine Einigung mit dem Grundeigentümer genügt, um sich hier auf die Suche nach Fossilien begeben zu können.

 

Einen guten Kompromiss aus maximaler Freiheit und einem Vorrecht des Staates auf Fossilien von besonderer wissenschaftlicher Bedeutung hat Dänemark gefunden. Im Danekrae-Gesetz regelt es den Umgang mit „Naturgütern“, hauptsächlich Fossilien; archäologische Schätze werden dagegen in einem anderen Gesetz behandelt. Es gibt in Dänemark ein Schatzregal für Naturschätze, das dem Staat einen Zugriff auf außergewöhnliche Funde sichert und gleichzeitig deren Findern eine angemessene Belohnung garantiert. Die Paläontologie erlebt seit Einführung des Gesetzes vor rund 30 Jahren in Dänemark eine bis heute anhaltende Blütezeit, weshalb die Gesetzgebung Dänemarks in Fachkreisen als leuch-tendes Vorbild gilt.

 

Wie man die großen Probleme eines kleinen Wissenschaftszweigs lösen kann und wie sie entstehen, ist in den Grundzügen erkannt. Es braucht nun parteiübergreifende Unterstützung und politischen Handlungswillen: in Nordrhein-Westfalen, auf Bundesebene und am besten eines Tages auch europaweit. Nur so kann es gelingen, auch die anderen Länder mit gut gemeinter, aber schlecht gemachter Gesetzgebung von den Restriktionen zu befreien. Dies würde es ermöglichen, vom paläontologischen Weltnaturerbe in gemeinsamer Anstrengung von staatlich finanzierter Forschung und Denkmalpflege sowie unter Einbindung Tausender hochmotivierter Citizen Scientists zu retten, was zu retten ist.

 

Ein befreundeter Amateurpaläontologe schrieb mir im Kontext der Initiative zur Gesetzesnovellierung: „Die Zeit ist gegen uns.“ Ich entgegnete ihm „Ja, sie war gegen uns. Aber nun ist sie reif für Veränderungen.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.


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