Ludwig Greven - 1. September 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Eine Frage auch an die Kultur


Die Niederlage in Afghanistan stellt in Zweifel, ob das westliche Lebensmodell noch als Vorbild für die Welt taugt

F rauen, Künstler, Journalisten konnten sich 20 Jahre lang in Afghanistan relativ frei entfalten. Ansätze für eine Zivilgesellschaft entstanden. Mädchen konnten zur Schule gehen, Straßen wurden gebaut, Brunnen gebohrt. Hoffnung wuchs auf ein besseres, freieres Leben. Zwei Präsidenten wurden gewählt, wenn auch auf fragwürdige Weise, und ein Stammesparlament, das freilich wenig zu sagen hatte und sich befehdete. Das alles unter dem Schirm Abertausender amerikanischer und auch deutscher Soldaten. Das ist nicht wenig, und es war aller Anstrengungen vor allem der zivilen Helfer wert. Doch vom grausigen Ende her betrachtet, ist es leider so gut wie nichts. All das, was über viele Jahre mühsam aufgebaut wurde, ist über Nacht ausgelöscht. Die Illusionen, in dem rückständigen Land eine offene, demokratische Gesellschaft nach westlichem Leitbild aufbauen zu können, sind zerplatzt. Durch den chaotischen Rückzug der mächtigsten Militärallianz der Welt. Durch die von den Taliban von langer Hand vorbereitete blitzartige Rückeroberung der Macht, mit der sie das von den Nato-Truppen hinterlassene Vakuum füllten. Und durch den 20-jährigen Krieg selbst. Die Nacht senkt sich wieder über das Land.

 

Demokratien und liberale Demokraten, auch Künstler, halten es schwer aus, wenn in ärmeren, weniger entwickelten und freien Nationen nicht annähernd die gleichen Verhältnisse herrschen wie bei ihnen. Deshalb schauen sie zu oft weg und ignorieren, welchen Anteil daran und welche Verantwortung sie selbst tragen. Aber sie halten es genauso wenig aus, wenn alle Bemühungen, die Verhältnisse in diesen Ländern durch internationale Hilfe zum Besseren zu wenden, nicht fruchten, weil die einheimischen Eliten sich nur selbst bereichern und die Bevölkerung nicht genügend mitzieht. Erst recht halten sie keine jahrzehntelangen hybriden Kriege gegen Untergrundkämpfer und Glaubenskrieger aus, die immense Opfer auch materieller Art auf beiden Seiten kosten. Vor allem jedoch für die jeweilige Bevölkerung, wie schon in Vietnam.

 

Die zwei Jahrzehnte währende Besatzung Afghanistans, die Zehntausenden Toten und Verwundeten, die ständigen Hausdurchsuchungen und Straßensperren, die Drohnenangriffe der USA, die Bombenattentate und Morde der Taliban haben die Menschen in diesem seit jeher kriegsgeschundenen Land trotz aller Fortschritte zermürbt. Sodass viele am Ende die Rückkehr der Steinzeit­islamisten fast herbeisehnten und die afghanischen Soldaten weg- oder überliefen. Wozu hätten sie ihr Leben gegen die blutrünstigen Taliban opfern sollen? Um die kleptokratische Regierung in Kabul und die von ihr eingesetzten Warlords in den Provinzen zu verteidigen? Oder eine Freiheit und Demokratie, die es trotz der Intervention bis zum Ende kaum gab? Auch wenn die Afghanen wissen und ahnten, was ihnen nun wieder bevorsteht. Weil es immerhin ein Ende der westlichen Besatzung bedeutet. Weil es nach all dem Chaos und Schrecken, all der Gewalt schon unter der sowjetischen Besatzung ein Ruhen der Waffen verspricht: Friedhofsruhe. Und weil – auch das gehört zur bitteren Wahrheit – viele Afghanen, vor allem Männer, hinter den Taliban und ihrer archaischen Ideologie eines islamischen Gottesstaats und der Scharia stehen.

 

Mir hat vor Jahren ein alter Afghane, der vor 35 Jahren mit vielen anderen vor den Sowjets und ihrem in Kabul errichteten kommunistischen Regime nach Deutschland geflohen war, gesagt: „Die Briten, Russen, Amerikaner und auch ihr Deutschen habt nun in meiner Heimat schon so lange Kriege geführt, neben Pakistanis, unseren eigenen Regierungen, Bin Laden, den Taliban und vielleicht tausend anderen schrecklichen Afghanen. Wenn es die alle nicht gäbe, dann wäre Afghanistan ein wunderschönes Land. Dann könnte ich dort mit meiner Familie in Frieden leben.“

 

Es war von Beginn an eine trügerische Hoffnung, in dieser von einem konservativen Islam und jahrhundertelangen Kriegen geprägten Stammesgesellschaft, die nie eine wirkliche Staatlichkeit kannte, mit militärischer Gewalt von außen binnen kurzer Zeit eine liberale Ordnung nach westlichem Muster, mit Frauenrechten und Toleranz für individuelle Lebensstile schaffen zu können. Die westlichen Mächte wollten – aus bester Absicht – ihr Modell einem Land aufdrücken, das sich zuvor schon der Ursupation durch die Rote Armee und zweimal der Unterwerfung durch das britische Empire widersetzt hatte. Das konnte nur grausam schiefgehen.

 

War also alles umsonst? Sicher nicht. Denn was die westlichen Entwicklungshelfer und NGOs in Afghanistan gesät haben, wird irgendwann, wenn der jetzige Albtraum vergangen ist, hoffentlich Frucht tragen. Viele Afghanen werden das nicht vergessen und weiter danach streben. Entwicklung, Demokratie, Versöhnung und eine freie, kreative Kultur und Kunst können jedoch nur von innen wachsen. Die westlichen Staaten, auch Deutschland, müssen nun Afghanistan erst recht dabei weiter helfen und dafür auch mit den neuen Machthabern verhandeln. Wie immer nach solchen Kriegen. Das sind wir den Afghanen schuldig, nach dem, was wir über sie gebracht haben. Und wir müssen, wenn irgend möglich, nicht nur die Menschen rausholen und aufnehmen, die unsere Soldaten, Helfer, NGOs und Medien unterstützt haben. Sondern auch solche, die den vom Westen geschürten Hoffnungen vertraut und für Menschen- und Frauenrechte gekämpft haben und sich die künstlerische Freiheit nahmen. Und denen nun ebenfalls Kopfabschneiden droht.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.


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